Ein Selbstmord kommt nicht immer allein

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Er ist lange nicht mehr hier gewesen. Die Stufen knarrten wie sie es immer getan hatten, wenn man auf sie trat. Sie hatten Sherlock damals vorausahnen lassen, wer ihnen einen Besuch abstattete. Doch nun war er es, der sie hochstieg, um sein altes Heim nach drei Monaten zu besuchen. Er war nicht direkt freiwillig hier, hatte den Besuch keineswegs geplant und doch ist er sofort in den Flieger gestiegen, nachdem Mycroft sich mit beunruhigenden Nachrichten gemeldet hatte.
Der ältere Bruder hatte John nach Sherlocks Selbstmord weiterhin überwacht, doch plötzlich konnte er den Arzt nicht mehr finden. Er hatte nach eigenen Aussagen nicht genug Zeit gehabt, um das näher beobachten zu lassen, doch er hatte seinen kleinen Bruder gerufen, damit er sich mit dem Verschwinden seines besten Freundes befassen konnte.
Und dies tat er nun, stand mit klopfendem Herzen vor der Wohnungstür, die er in seinen Wutanfällen oft zugeschlagen hatte. In seinen Ohren klang noch das Geräusch der zufallenden Tür und die gleich darauffolgende Ermahnung seitens John, welcher wie immer in seinem Sessel saß und einen Blog über den letzten Fall schrieb. Doch der Blog ist seit Monaten ausgeblieben, es gab keinen abenteuerlichen Fall mehr, über den man berichten konnte.
Sherlock starrte einige Zeit auf die Türklinke und wagte es nicht so recht,  sie herunterzudrücken. Hinter ihr war es still, John war offensichtlich nicht zuhause, was man von Mrs. Hudson nicht behaupten konnte, die unter ihm lautstark staubsaugte.
Sie tat es immer am selben Tag, jede Woche und der Detektiv musste über diese Konstante in dem Leben seiner ehemaligen Vermieterin lächeln. Er hatte in letzter Zeit viel zu selten gelächelt und spürte jetzt, wie sehr das Gefühl der Freude mit John und der 221B Baker Street zusammenhing. 
Nach einiger Überwindung öffnete er endlich die Tür und blieb im Rahmen stehen.
Er musste den Eindruck kurz auf sich wirken lassen. Es sah alles gänzlich unverändert aus, sogar die Harpune lehnte noch an der Wand, obwohl John ihm unzählige Male gesagt hatte, dass er sie doch bitte weglegen solle. Doch offenbar hatte er es nicht übers Herz gebracht sie nach Sherlocks vermeintlichen Tod woanders zu verstauen.
Endlich trat der Mann richtig ein und schloss die Tür leise hinter sich. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen, wo er offiziell doch immer noch tot war.
Es war ein vertrautes Gefühl, als das Leder seines Sessels sich an ihn schmiegte, während er sich hineingleiten ließ. Für einen Moment schloss er die Augen und es fühlte sich so an, als wäre er nie weggewesen. Doch als er die Augen wieder öffnete war der rote Sessel vor ihm leer, kein John, der verzweifelt nach einem Fall suchte, wenn Sherlock mal wieder von der Langweile geplagt wurde oder sich einfach mit ihm unterhielt.
Es schmerzte den Detektiv, dass er völlig allein in diesem Raum saß, der ihm so leer erschien. Wie musste John sich wohl gefühlt haben? Er sah über den Sessel hinweg zu dem Küchentisch, auf dem nach wie vor seine vielen Experimente standen. Sein Mikroskop trug eine Staubschicht, John hatte wohl nichts in diesem Raum berührt.
Nur ein Büchlein auf dem Tisch fiel ihm auf, welches durch seine Sauberkeit auf dem eingestaubten Tisch herausstach.
Sherlock runzelte die Stirn und stand in einer fließenden Bewegung auf, um sich das Buch zu holen.

Es war nicht besonders dick, doch beinahe alle Seiten waren mit Johns Handschrift gefüllt. Bedächtig fuhr er über die Buchstaben, ohne die Wörter zu lesen. Dann blätterte er zurück zur ersten Seite und begann.

Tag 4 ohne Sherlock
Ich habe das Gefühl, das mir der Sinn des Lebens genommen wurde, ebenso, wie mir mein bester Freund genommen wurde. Meine Therapeutin hat mir geraten, meine Gefühle aufzuschreiben, doch ich weiß nicht, wie man Leere vernünftig in Worten ausdrückt. Die letzten drei Tage waren eine Mischung aus Sitzungen, die mir einiges abverlangt haben, Alkoholkonsum, der nicht mehr gesund ist und herumsitzen. Ich kann diesen schwarzen Sessel nicht ausstehen, wenn Sherlock fehlt. Ich hätte ihn vor zwei Tagen beinahe angezündet, es dann aber doch gelassen. Ich konnte es einfach nicht.

Sherlock hielt einen Augenblick inne und strich geistesgegenwärtig mit seiner Hand über das Leder. Dieser Sessel hatte seinem Freund so viel Schmerz bereitet, wie es dessen eigener gerade tat. Er übersprang den Rest des Eintrages und blätterte weiter zu einem anderen Tag.

Tag 9 ohne Sherlock
Ich wage es nicht, irgendetwas hier zu verändern. Selbst seine blöden Experimente, in dessen Nähe ich mein Essen nicht abstellen wollte, lasse ich stehen. Es ist alles, was von ihm geblieben ist und ich werde einen Teufel tun und es wegräumen. Manchmal setze ich mich in seinen Sessel und der Geruch des Leders gibt mir das Gefühl, ihm wieder etwas näher zu sein. Doch wirklich nahe wäre ich ihm nur dann, wenn ich ihm an den Ort folgen würde, an dem er sich jetzt befindet.

Der Detektiv spürte, wie sein Herz schneller schlug. Dachte John ernsthaft über Selbstmord nach? Er blätterte er zum letzten Eintrag, wobei ihm auffiel, dass sie mit jedem Tag kürzer wurden. Bis er den einzigen und letzten Satz des Buches las und das Blut in seinen Adern gefror.

Tag 100 ohne Sherlock
Alles endet heute.

Das Buch landete geräuschvoll auf dem Boden, während Sherlock aufsprang und losstürmte. Er bekam nicht wirklich mit, wie er die Treppen hinuntereilte und die Tür aufriss, es war ihm egal, ob man ihn sehen konnte, obwohl er doch tot war. Der Taxifahrer erkannte ihn nicht und stellte keine Fragen, wofür der Detektiv dankbar war. Seines Erachtens fuhr der bärtige Mann viel zu langsam, doch der dichte Verkehr Londons ließ schnelleres Fahren nicht zu. Der Wagen stand noch nicht einmal richtig, als der Detektiv dem Fahrer achtlos einen Schein auf die Mittelkonsole warf und die Tür aufriss, um hinauszuspringen.

"Molly!", seine tiefe Stimme hallte durch den in weiß gestrichenen Flur und mit großen Schritten steuerte er den Kühlraum an. Die Pathologie hatte sich kein bisschen verändert, doch er ist auch erst seit wenigen Monaten fort gewesen. Die junge Frau erschien in seinem Sichtfeld und hätte um ein Haar die Akten, die sie bei sich trug, fallen gelassen, als sie den Mann erblickte.
"Sherlock, was machst du denn hier?", er erkannte sofort das sie nervös war, ihr Blick huschte unruhig zu der Tür, hinter der sich die leblosen Körper befanden. Außerdem presste sie die Akten dichter an sich, wobei sie sehr darauf achtete, die Beschriftungen zu verbergen. Auch wenn er bereits kombiniert hatte, was es zu bedeuten hatte, wollte er es nicht wahrhaben.
"Wo ist er?", fragte er und spürte, dass er das Zittern in seiner Stimme nicht verbergen konnte.
Als die Pathologin den Blick senkte, fühlte er sich in all seinen Annahmen bestätigt, doch dieses eine Mal verspürte er nicht das gewohnte Gefühl der Befriedigung, wenn er in etwas richtig lag. Vielmehr kam er sich so vor, als würde seine Welt endgültig aus den Angeln gerissen werden.
"Einundzwanzig", Sherlock schien durch Molly hindurchzuschauen, als sie ihm diese eine Zahl nannte. Eine Zahl, die ihm alle seine Fragen und düsteren Vorahnungen beantwortete. Betäubt drückte er die Tür auf und ging mit schweren Schritten zu der quadratischen Klappe, hinter der sich sein bester und einziger Freund befand. Seine Finger zitterten heftig und alles in ihm sträubte sich dagegen, sie zu öffnen. Er würde den Anblick und den letzten Beweis für den Tod von John nicht ertragen, nicht aushalten können, dass er Schuld daran war.
Doch er würde wohl nie Ruhe finden, wenn er sich nicht zu hundert Prozent sicher war.
Molly trat neben ihn und öffnete die Klappe für ihn. Zuerst sah er nur den dunklen Stoff des Leichensackes, in dem John lag, ehe sie die Liege hinauszog und Sherlock einmal fragend ansah, ehe sie langsam den Reißverschluss aufzog. Dann verließ sie den Raum und gewährte ihm so, Abschied zu nehmen.
Als der Detektiv John das erste Mal sah, schossen ihm Tränen in die Augen und er wandte sich ab. Er war sich sicher, dass er sich noch nie in seinem Leben derart schlecht gefühlt hatte. Wegen ihm ist ein guter Mensch gestorben, der Beste, von dem er je das Glück gehabt hatte ihn kennenzulernen. Johns Gesicht sah so friedlich aus als würde er schlafen, doch das gesäuberte Einschussloch in seiner Schläfe war der Beweis dafür, dass er nicht aufwachen würde. Nie wieder, egal wie sehr Sherlock es sich wünschte. Einige Tränen fanden ihren Weg über die markanten Wangenknochen von ihm, während er mit einer Hand durch die blond-grauen Haare seines besten Freundes fuhr und durch den Tränenschleier hindurch in sein Gesicht sah. Seine Augen waren geschlossen und Sherlock wünschte sich nichts sehnlicher, als zu sehen, wie diese Augen ihn ansahen, während sich Lachfältchen um sie bildeten.

Und je länger er neben dem toten Körper Watsons saß, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er das Wichtigste in seinem Leben endgültig und unwiderruflich verloren hatte.

Johnlock Oneshots Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt