Der Idiot an meiner Seite

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"Du verdammter Mistkerl!", wütend stapfte John voraus und verließ den Tatort, den die Männer des Scotland Yards großzügig abgesperrt hatten.
"Da stimme ich Ihnen total zu", Donovan hatte den Arzt eingeholt und ging einige Meter neben ihm, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dieser hatte überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit der Polizistin, die eine so offensichtliche Abneigung gegenüber seinem besten Freund hatte, auch, wenn dieser ihn gerade verärgert hatte.
"Nun, ich bin kein Fan von Sherlock Holmes, aber ich muss Ihnen eines sagen. Seit Sie an seiner Seite sind, ist er bedeutend erträglicher", die schwarzhaarige Frau lächelte ihn an, ehe sie sich zurückfallen ließ und zum Tatort zurückkehrte, wo besagter Detektiv das Yard wieder dumm dastehen ließ. Etwas verwundert über die Freundlichkeit, die Donovan ihm ausnahmsweise einmal entgegengebracht hatte, blieb John kurz stehen und warf einen Blick zurück zum Tatort, wo Sherlock ihm mit seiner großkotzigen Art die Laune verhagelt hatte. Kurz verharrte er an Ort und Stelle, ehe er sich abwandte und wieder den Weg in Richtung Straße ging, um sich ein Taxi zu nehmen, welches ihn zurück in die Baker Street bringen würde.

Watson hatte nur wenige Stunden Ruhe, ehe sein Mitbewohner die Holztreppen hinaufpolterte und schwungvoll die Tür aufdrückte. John zwang sich nicht aufzusehen und fixierte sich konzentriert auf den Zeitungsartikel vor sich, den er bereits durchgelesen hatte.
"Was hat Donovan zu dir gesagt?", Sherlock musterte seinen Freund und zog die Augenbrauen zusammen, als dieser nicht direkt antwortete.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht", John faltete die Zeitung zusammen und sah erstmals zu dem braunhaarigen Mann auf, welcher noch immer im Türrahmen stand.
"Ach komm, bist du etwa immer noch sauer?", endlich trat er ein und schloss die Tür, ehe er Schal und Mantel abnahm und aufhängte. John schüttelte leicht den Kopf, wenn es um menschliche Gefühle ging, hatte der sonst so intelligente Mann wirklich keine Ahnung. Sherlock setzte sich in seinen Sessel und musterte den Arzt kritisch. Er war zweifellos am Deduzieren und John war gespannt, ob er erraten konnte, was in ihm vorging.
"Du bist also noch sauer", stellte er dann nüchtern fest, wandte den Blick aber nicht ab. John gab es auf und seufzte, ehe er endlich antwortete.
"Du hast heute wieder alles und jeden zum Affen gemacht!", beschwerte er sich. In Sherlocks Gesicht stand ein Fragezeichen, so verstand er nicht, was seinen Partner plötzlich daran störte.
"Das ist doch nichts neues, John."
"Nein, eigentlich nicht. Aber du hast auch mich wie einen Idioten aussehen lassen!", John funkelte ihn an, doch jetzt wo er es ausgesprochen hatte, fragte er sich, wieso es ihn eigentlich derart gestört hatte. Er war es doch eigentlich gewohnt, dass sein Freund nicht zur Bescheidenheit in seinen Bekundungen über die Intelligenz seiner Mitmenschen neigte und doch fühlte er sich an diesem Tag erstmals beleidigt. Sherlock konnte die Verärgerung offensichtlich ebenfalls nicht nachvollziehen, denn normalerweise ist es John völlig egal gewesen. Ohne sich zu regen starrte er ihn weiter prüfend an, um vielleicht noch etwas aus seinem Auftreten herauslesen zu können, was es ihm leichter machte, ihn zu verstehen. Tatsächlich hatte er sich offenbar mehr um sein Äußeres gekümmert als sonst, er war sogar der Meinung, den Hauch eines neuen Deos wahrnehmen zu können.
"Hat dich etwa dein Date versetzt?", dies war die einzige logische Erklärung, die er finden konnte.
"Warte, was? Ein Date? Was für ein Date?", ungläubig starrte John ihn aus den blau-grauen Augen an, die den Detektiv in manchen Momenten schwach werden ließen, wenn es beispielsweise um Bitten ging. In Kombination mit den Worten 'Tu es für mich' war er absolut nicht mehr in der Lage die Bitte auszuschlagen. Doch nun ging es um keine Gefälligkeit, der Blick war verärgert und noch etwas lag in ihm, etwas, das Sherlock nicht zu erkennen vermochte. Er brauchte einige Sekunden, bis er erahnen konnte, was das noch in seinen Augen war.
"Es... Es hat dich verletzt, oder?", fragte er behutsam, immer darauf bedacht, ihn nicht zu reizen. John antwortete einen Moment lang nicht, er sah nur auf seine gefalteten Hände hinab, ehe geräuschvoll ausatmete.
"Ja. Ja, es hat mich irgendwie verletzt. Und ich weiß selbst nicht wieso", Zweifel mischten sich in die Stimme, John verstand seine eigene Reaktion nicht und das verunsicherte ihn. Doch je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher konnte er den Kern des Problems erkennen. Er wollte ihn nur nicht wahrhaben.
Sherlock wusste nicht, was er hätte antworten sollen, also nickte er nur langsam.
"Ich... Es tut mir leid", waren seine Worte, ehe er aufstand und in sein Zimmer ging.

John lag in der Nacht lange wach und wälzte sich hin und her. Er bekam einige Gedanken einfach nicht mehr aus dem Kopf und es erschreckte ihn, dass jeder einzelne mit dem Mann zusammenhing, der im Raum unter ihm schlief.
Als er das vertraute Geräusch der Geige wahrnahm, beschloss er aufzustehen und hinunterzugehen. Sherlock war offenbar ebenfalls noch wach und ein wenig Gesellschaft würde ja nicht schaden.
Der Detektiv mit den zerzausten Locken war überrascht, als die Tür sich öffnete und John im Schlafanzug den Raum betrat. Schweigend setzte er sich in seinen Sessel und lauschte dem Geigenspiel. Es war eine neue Melodie, also komponierte sein Mitbewohner wieder. Dies tat er jedoch hauptsächlich zum Nachdenken, also wurde auch er von Gedanken wach gehalten. Je länger John ihn beobachtete, desto deutlicher verspürte er ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Des Rätsels Lösung lag auf der Hand, es galt nur noch diese auch zu akzeptieren, was den bedeutend schwierigeren Part darstellte.
Nach einer Weile setzte Sherlock seine Geige ab und Stille umgab die beiden Männer, die schweigend in ihrer Position verharrten. Sie sahen sich an, doch in dem Raum war es dunkel, sodass sie nur die Konturen des jeweils anderen erkennen konnten. Es reichte, um Johns Herz höher schlagen zu lassen.
"Du warst verletzt, weil es dir wichtig ist, was ich von dir halte, oder nicht?"
Der Arzt revidierte seine Meinung über Sherlocks Auffassung menschlicher Gefühle, denn dies hatte er sehr gut auf den Punkt gebracht. Jedes einzelne seiner Worte war wahr, weswegen er darauf nichts zu antworten wusste.
"Naja, nur weil ich dich dumm dastehen lasse, halte ich dich nicht für wirklich dumm. Du bist ein kluger Mann, John. Und offenkundig ein guter, denn du hältst es mit mir aus", Sherlocks Stimme war warm und ruhig, seine Worte bedacht. John senkte den Blick, wenn sein Gegenüber so weitermachte, würde er überhaupt nicht mehr schlafen können.
"Gute Nacht, Sherlock", entschlossen stand er auf und steuerte die Tür an, um sein Zimmer aufzusuchen, als der Detektiv vor ihn trat. Er trug seinen Morgenmantel und John musste sich überwinden seinen Blick von dem Kleidungsstück weg in das Gesicht des Trägers zu steuern, doch es gelang ihm.
"Ich habe dieses Kribbeln und das Glücksgefühl erst nicht verstanden", seine Stimme glich mehr einem Hauchen und John spürte, wie er eine Gänsehaut bekam.
"Aber ich glaube langsam, dass du-"
Der Arzt wusste nicht, woher er den Mut genommen hatte, doch er hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt und seine Lippen vorsichtig auf die von Sherlock gelegt. Dieser ist sofort verstummt und regte sich nicht, ehe er den zarten, zurückhaltenden Kuss erwiderte. John hatte endlich akzeptiert, dass er Gefühle für seinen Mitbewohner entwickelt hatte, die nicht mehr rein freundschaftlicher Natur waren.
"Gute Nacht, Sherlock", flüsterte er seine bereits gesagten Worte erneut, nachdem sie sich gelöst hatten.
Der Detektiv rührte sich nicht, er hielt ihn nicht auf. Doch gerade als sein Freund in den Flur getreten ist, ergriff er seinen Arm und zog ihn näher zu sich, um seinen Kopf herabzusenken und ihre Lippen erneut zu versiegeln. Beide ließen sich in diesen Kuss fallen, der weniger schüchtern und dafür intensiver war als sein Vorgänger.
"Ich habe das Lied erst vor wenigen Stunden komponiert", Johns Gedanken waren so durcheinander von den beiden Küssen, dass er einen Moment brauchte, um darauf zu kommen, welches Lied Sherlock meinte.
"Ich habe es 'Der Idiot an meiner Seite' getauft", der Größere der Männer lächelte zu dem Kleineren hinab, welcher dieses Lächeln erwiderte.
Dieses Mal nahm er ihm diese Bezeichnung nicht übel.

Johnlock Oneshots Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt