Gefühlschaos

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Regungslos richtete sich der Blick der blauen Augen an die kalkweiße Decke, durch die sich einige kleine Risse zogen. Neben dem Mann ertönte in regelmäßigen Abständen leises Atmen, doch er war so in Gedanken versunken, dass er es nicht wahrnahm.
Obwohl er nach Außen ruhig und friedlich wirkte, herrschte in ihm ein völliges Chaos.
Sherlock ist aus heiterem Himmel zurück in sein Leben getreten. Sherlock, der Mann, dem er zwei Jahre lang nachgetrauert hatte und dessen Tod sein Leben aus den Angeln gerissen hatte. Und kaum hatte er wieder etwas Ordnung in dieses gebracht, kam das Chaos unverhofft zurück. Nur, dass es diesmal auch seine Gefühle betraf.
Es hatte John viele Therapiestunden und einiges an Überwindung gekostet, bis er sich endlich eingestehen konnte, dass er zwar nicht schwul, aber Bisexuell war. Er hatte mehr als bloß Freundschaft für Sherlock empfunden, doch als er es endlich verstanden hatte, ist es bereits zu spät gewesen. Trotz der Erkenntnis über seine Sexualität hatte er nie wieder Gefühle für einen Mann entwickelt, er konnte es einfach nicht.
Doch dann ist Mary in sein Leben getreten, die Frau, die jetzt ahnungslos neben ihm schlief. Er hatte er nie erzählt, dass er eigentlich Bi war, weil er niemals einen anderen Mann außer Sherlock als Partner in Betracht gezogen hatte. Und nun war genau dieser Mann zurück und das ging keineswegs spurlos an ihm vorbei. Es war, als hätte sein Herz einen Teil für den Detektiv abgesperrt und die vielen Gefühle hinter einer Tür mit einem Schloss versteckt gehalten, doch jetzt ist dieses Schloss aufgebrochen und die Emotionen sorgten für viel Wirbel.
Im Nachhinein tat es ihm leid, dass seine erste Reaktion auf die unerwartete Rückkehr ein Wutanfall gewesen ist, doch eigentlich hatte sein Freund das mehr als verdient. Immerhin hatte er sich das perfekte Timing ausgesucht, denn so hatte er Mary noch keinen Heiratsantrag gemacht. Die kleine Schatulle befand sich noch immer in der Tasche seines Oberteils, wo er sie zurückgelassen hatte. Er hatte nicht weiter versucht ihr einen Antrag zu machen und hatte es plötzlich auch nicht mehr so eilig mit einer Verlobung. Es fühlte sich an, als ob er sowohl Mary als auch Sherlock lieben würde und das zerriss ihn förmlich. Eigentlich hatte er auch eine Präferenz, die er sich bloß nicht eingestehen wollte. Er wollte nicht alles wieder für den Mann umwerfen, der alles zerstört hatte. Der ihn zerstört hatte.

Seufzend drehte John sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen, doch er bekam den Lockenkopf nicht mehr aus den Gedanken. Immer wieder suchten sie ihren Weg zurück zu ihm und er konnte - und wollte - es nicht verhindern. Doch das aufkeimende schlechte Gewissen ließ er zu, es hatte keinen Zweck, es zu verdrängen. Es hatte ja Recht, er liebte Sherlock noch immer, er hatte nie wirklich damit aufgehört und das war nicht mit seiner aktuellen Beziehung vereinbar, über die er sich bis vor diesen Abend noch sehr sicher gewesen ist. Erstaunlich, wie viel ein einzelner Mensch verändern konnte.
"Worüber denkst du nach?", Marys müde, vom Schlaf kratzige Stimme ließ John zusammenfahren. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und kurz dachte er an die von Sherlock, die er so gerne geküsst hätte. Stattdessen hatte er sie heute mit Blut besudelt, Blut, welches aus der Nase getreten ist, auf die er geschlagen hatte. Er sollte aufhören, an ihn zu denken.
"Du denkst an Sherlock, oder?", trotz der vergleichsweise kurzen Zeit kannte sie ihn bereits so gut. Sie verdiente es nicht verlassen zu werden, nur weil jemand Besseres zurückgekommen ist.
Da es keinen Sinn hatte sie anzulügen, nickte er.
"Das verstehe ich total, immerhin ist er nach zwei Jahren endlich zurück", er hasste es, dass sie so viel Verständnis aufbrachte, obwohl sie nichts verstand. Sie verstand nichts von seinem Zwiespalt, von dem Chaos in ihm, von seinen romantischen Gefühlen gegenüber einer Person, die nicht sie war.
Es war als könnten ihre blauen Augen durch ihn hindurchsehen, jedes Geheimnis aus ihm lesen. Und das beunruhigte ihn, denn er wollte nicht, dass sie irgendetwas von seiner inneren Unruhe mitbekam.
Mary betrachtete ihn eine Weile schweigend und das verunsicherte ihn.
"Wir sollten weiterschlafen", murmelte er dann leise, robbte näher heran, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken und drehte sich dann von ihr weg, damit er sie nicht weiter mit dem schlechten Gewissen ansehen musste.

Johnlock Oneshots Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt