Was er hätte sagen wollen

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Schweigend sah John seine Therapeutin an. Sie verlangte Unmögliches von ihm, so empfand er es zumindest. Es ging sie überhaupt nichts an, was er Sherlock noch hätte sagen wollen, bevor dieser sich entschieden hatte, von dem Dach zu springen. Er hatte diese tiefe Wunde nach diesen wenigen Monaten notdürftig geschlossen, doch sie riss bei jeder Erinnerung auf und sorgte für schreckliche seelische Schmerzen, für die er keine Linderung fand. Doch vielleicht war es gut, wenn er es endlich mal jemanden sagte, der lebendig und nicht gerade der dunkle Grabstein mit dem Namen dieses einen Mannes war. Er räusperte sich ein paar Mal und spürte das vertraute Gefühl, wenn Tränen in ihm aufstiegen, die er zurückzuhalten versuchte. Er hatte schon viel zu viele Tränen für Sherlock vergossen.
„Ich- Ich hätte ihm gesagt, dass keiner mein Leben so verändert hat wie er“, begann er stockend und mit brüchiger Stimme. Es war kein Leichtes sich jemanden zu öffnen, selbst wenn dieser Jemand seine Therapeutin war, die genau dafür bezahlt wurde.
„Als ich mit ihm zusammengezogen bin, war mein Leben manchmal ziemlich chaotisch. Aber ich habe es geliebt“, nun standen wirklich Tränen in den blauen Augen, die seit dem Suizid Sherlocks matt und leblos wirkten. Der einzige Glanz in ihnen war der der Tränen, die viel zu oft ihren Weg über seine eingefallenen Wangen fanden.
„Wir haben Verbrecher – Mörder – gejagt und dieser Nervenkitzel war beinahe suchterregend. Es waren immer wir, wir zwei, die sich gegen den Abgrund dieser Gesellschaft gestellt haben. Doch es waren eigentlich weniger die Fälle, die das Zusammenleben mit ihm ausgemacht haben. Es war das Geigespielen nachts um halb drei, wenn er mal wieder nicht schlafen konnte. Es hat mich wahnsinnig gemacht und jetzt macht es mich wahnsinnig, es nicht mehr zu hören. Unser Küchentisch war voll mit Experimenten, die es einem unmöglich gemacht haben dort vernünftig zu essen. Ich hatte andauernd Angst irgendwann einmal an einer Vergiftung zu sterben. Ich habe einige von ihnen weggeräumt. Eigentlich wollte ich alle wegtun, aber an einige habe ich mich nicht rangetraut, aus Angst, dass mir irgendetwas in die Luft fliegt. Das Mikroskop steht noch an Ort und Stelle, sogar die Probe ist noch drin. Vielleicht sollte ich sie mal entsorgen, ehe das noch schimmelt. Obwohl, schimmelt so etwas überhaupt? Ich habe keine Ahnung von sowas! Ständig hat er sich irgendeinen Kram angesehen, nannte es ein wichtiges Experiment und ich fühlte mich wie ein Idiot, weil ich unter der Linse nicht einmal die Probe gefunden habe. Aber es ist kein ungewohntes Gefühl, sich neben ihm wie ein Idiot zu fühlen. Ich meine es ist“, seine Stimme brach, „es war Sherlock Holmes. Auch wenn alle denken mögen, dass er ein Schwindler war, glaube ich nichts davon. Es ist unmöglich das alles vorzutäuschen. In unserem Kühlschrank lagen Teile von Leichen, widerwärtiges Zeug was einem den Appetit verdirbt. Einmal war sogar ein ganzer Kopf da drin! Ein ganzer Kopf! Können Sie sich das vorstellen? Ich habe andauernd überlegt, ob es nicht schlauer wäre, einen eigenen Kühlschrank in mein Zimmer zu stellen, der nicht mit toten Körperteilen verseucht ist. Der Alte sollte am besten angezündet werden. Ich öffne ihn nie, wer weiß, ob da drin nicht noch Finger gammeln oder so. Es ist mir auch eigentlich egal. Alles ist mir egal, seit er tot ist. Es ist, als wäre der Sinn meines Lebens so zerschmettert wie sein Körper auf dem Boden zerschmettert ist. Und mein Herz“, er flüsterte die letzten Worte und die Therapeutin machte sich Notizen.
„Sie haben jetzt über ihn geredet, aber was hätten Sie zu ihm gesagt?“, ihre Stimme warf sanft und weich. Ruhig sah sie ihn an und John wandte den Blick von seinen Händen ab, die er die ganze Zeit über angestarrt hatte.
„Ich hätte ihm gesagt, dass mir all das nichts ausgemacht hat. Dass ich mich an nichts von dem so sehr gestört habe wie an der Tatsache, dass er nicht mehr da ist. Ich hätte ihm gesagt, dass ich nicht schwul bin. Erneut und das stimmt auch. Denn es gibt wesentlich mehr Sexualitäten als bloß Hetero und Homo. Ich hätte ihn wissen lassen, dass ich eigentlich Bi bin. Das habe ich vor einiger Zeit endlich akzeptiert. Naja, jetzt ist es ohnehin zu spät“, er senkte den Blick wieder. Er kam langsam an den Kern seines Leids und die Frau vor ihm sah ihn auffordernd an, damit er weitersprach.
„Okay, ich habe genug drum herum gequatscht. Ich hätte ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Dass er mir die Luft zum Atmen genommen hat und das allein mit diesen verdammten, wunderschönen Augen, in denen ich regelmäßig ertrunken bin. Ich hätte ihm gesagt, wie gerne ich ihn geküsst hätte, wie sehr ich unsere wenigen Berührungen geschätzt und geliebt habe. Wie oft ich der Versuchung widerstehen musste, durch seine Locken zu fahren, die zwar immer chaotisch aber dadurch perfekt aussahen. Aber im Großen und Ganzen hätte ich ihm einfach gerne diese drei Worte gesagt. Dass ich ihn liebe.“

Johnlock Oneshots Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt