Prolog

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Sie wusste noch ganz genau wie sie Jonah zum ersten Mal gesehen hatte. Natürlich war er ihr schon früher begegnet, er war sogar bei ihrer Geburt dabei gewesen, das wusste sie. Sicher hatte sie ihn auch einige Male aus der Ferne angestarrt, wie die anderen Kinder. Aber an diesem Tag nahm sie ihn zum ersten Mal richtig wahr. Der Moment war in ihr Herz eingraviert, sie würde ihn niemals vergessen können.

Lerche war noch ein kleines Mädchen gewesen, vielleicht gerade mal fünf oder sechs, sie saß in der Kirche eingeklemmt zwischen den anderen Kindern, auf der harten Holzbank. Ihr war langweilig, sie malte mit den Füßen kleine Kreise in die Luft. Unaufällig, natürlich. Die Erzieherinnen des Kinderhauses hätten gesagt, sie respektiere das Göttliche nicht, sie mache sich darüber lustig, indem sie sich nicht angemessen verhielt. Aber sie bemerkten, zumindest an diesem Tag, nichts. Sie hörte auch schnell wieder damit auf, denn Jonahs Worte fesselten sie viel zu sehr. Er hatte an diesem Tag die Predigt für seinen Vater übernommen, warum wusste sie nicht mehr. Er hatte ihnen von Dämonen und Engeln und Gott erzählt, sogar vom Draußen. Und all das, was Lerche immer gelangweilt hatte, erschien ihr auf einmal wie die spannendste Sache der Welt. Seine Augen hatten gestrahlt, seine Hände wild gestikuliert. Das Gewand des Auserwählten stand ihm hervorragend. Er las nicht aus der Bibel, er erzählte einfach. Jonahs Erzählungen erweckten Engel und Dämonen gleichsam zum Leben, ließen sie vor ihren Augen, oder eher Ohren, einen erbitterten Kampf austragen. Und zum ersten Mal begriff sie es, obwohl ihre Eltern ihr natürlich immer davon erzählt hatten. Aber jetzt erst nahm sie es wirklich in sich auf. All das war echt, eine echte Bedrohung.

Obwohl sie noch so klein war, machte ihr diese lebhafte Erzählung keine Angst. Ganz im Gegenteil, je länger sie zuhörte, desto sicherer fühlte sie sich. Lerche wusste, sie brauchte sich nicht zu fürchten. Denn Jonah war ihr Ritter in strahlender Rüstung, wie in den Märchen, die Mutter manchmal erzählte. Er würde Lerche beschützen vor all dem Grauen im Draußen. Und als er lächelte, war sie sich sicher, dass er einzig sie ansah.

Später verstand sie, dass das sicherlich nicht der Fall war. Als Lerche und die anderen Mädchen älter wurden, wurde ihr klar, dass jede sich ein Lächeln von Jonah wünschte. Das jede glaubte er möge sie besonders. Und auf einmal wurde es ihr weniger wichtig. Alle wollten es, also wollte sie es nicht mehr. Die typische Trotzhaltung. Während die anderen Mädchen darum stritten bei seinen Predigten in der ersten Reihe sitzen zu dürfen, saß sie mit Elisabeth freiwillig in der letzten. Manchmal schafften sie es sogar unbemerkt zu tuscheln. Sie hatte begonnen Elisabeth Ella zu nennen, als diese begonnen hatte ihr Schatten zu werden.

Sie hatte kein einziges Wort mit ihm gesprochen, bis sie zum ersten Mal bei einer Sache nicht weiterkam. Lerche war das schlauste Kind in der Zuflucht und damit also auch auf der Welt. Das sagte Ella zumindest. Aber dieses eine Problem konnte Lerche nicht lösen. Es war ganz plötzlich in ihrem Kopf aufgetaucht und nicht mehr verschwunden. Sie wusste aus den Religionsstunden, dass Engel Flügel haben. Natürlich, jedes kleine Kind wusste das. Und sie hatte die Anatomie der Vögel in der Bibliothek studiert. Die Frage hatte sich ganz natürlich in ihr gestellt, wie etwas wirklich Wichtiges. Natürlich war es lächerlich gewesen, aber für die zehnjährige Lerche war sie das nicht. Warum hatten Vögel die Flügel der Engel? Waren sie Engel? Änderten sie vielleicht ihre Gestalt? Oder hatten die Engel den Vögeln Flügel gegeben, aber den Menschen nicht? Sie fragte Ella, sie sprach es tausende Mal mit ihr durch ohne Ergebnis. Sie fragte ihre Lehrerinnen. Aber diese wollten nichts davon hören, bezeichneten es als Unsinn oder verboten ihr sogar diesen Vergleich zu ziehen. Es sei nicht respektvoll. Sie fragte sogar einmal die Leiterin des Kinderhauses, Ida. Doch auch sie antwortete nicht.

Und das lies es Lerche noch wichtiger erscheinen. Sie fand keine Antwort, weder in einem Buch noch sonst irgendwo.

Also beschloss sie den klügsten Menschen zu fragen den sie kannte. Und das war zweifellos Jonah. Oder sein Vater, der Auserwählte, aber ihn hatte sie lange nichts mehr selbst tun sehen. Die Dämonen hatten ihn krank gemacht, sagte ihre Lehrerin. Bei allen öffentlichen Veranstaltungen sprach meist Jonah für ihn, während er im Hintergrund saß und nickte. Er schien schwach. Die Predigten hielten entweder die Hohen Herren oder Jonah. Also blieb nur einer: der Mann, der so wunderschön reden konnte, der scheinbar auf alles eine Antwort wusste.

Jetzt saß sie wieder in der ersten Reihe der Kirche. Sie hoffte jeden Tag, es würde Jonahs Predigt sein. Sie wusste, dass es ein Sonntag sein musste. Wenn er selbst aus der Bibel las, dann nur sonntags. Und Lerche hatte recht. Sie musste vier Wochen warten aber dann war es soweit. Die Lehrerin und Ana Maria trieben die Kinder nervös in eine Reihe, um sich für den Segen anzustellen. Ella war vor ihr gewesen, das wusste Lerche noch genau. Sie sah wie ihre Freundin niederkniete und die Augen schloss, als Jonah ihr mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn zeichnete. Er flüsterte seinen Segen, Ella stand auf, den Blick gesenkt und trat aus der Reihe. Lerche war so aufgeregt wie noch nie. Die Lehrerin würde sie bestrafen, das wusste sie. Es war den Kindern verboten während der Andacht zu sprechen. Und die Augen beim Segen zu öffnen war ebenfalls verboten. Aber ihre Neugier war zu groß. Sie kniete nieder, die Hände kalt wie Stein. Sie schloss die Augen. Sie spürte Jonahs Hand auf ihrer Stirn. Und dann tat sie es: Lerche öffnete die Augen und starrte Jonah an. Er war überrascht, aber er lächelte. Und sie fragte: „Sind die Vögel Engel?"

Sie hatte nicht gewusst, was diese Frage auslösen würde. Sie hatte nicht gewusst welchen Stein sie ins Rollen bringen würde, mit wem sie sich anlegen würde. Aber alles was in den nächsten Jahren passieren sollte, war indirekt eine Folge dieses Moments. Dieses ersten Males, wo sie mutig gewesen war.

Mit 11 bekam sie das erste Buch. Ein ganz eigenes Buch, nur für sie, von Jonah. Es war in graues Papier eingewickelt gewesen. Es lag einfach auf ihrem Tisch mit einem kleinen Zettel mit der geschwungenen Schrift von Lucas darauf. Ella und sie hatten es anfangs für einen Scherz gehalten. Sie waren darum geschlichen, wie um eine Schlange. Doch es sah aus wie ein Buch, es fühlte sich an wie ein Buch und falls es wirklich von Jonahs Sekretär hierher gebracht worden war, dann war es auch eins.

Sie hatte es aufgerissen und das Papier achtlos auf den Boden geworfen, nur um es dann doch wieder aufzuheben und in ihre Kommode zu legen. Lerche hatte das Buch überall dabei gehabt. Im Unterricht lag es auf ihren Knien, sie lass darin, wenn sie sich langweilte. In der ersten Stunde mit dem Buch hatte ihre Lehrerin versucht es ihr wegzunehmen. Sie hatte sie angeschrien und gesagt sie solle aufhören so eine faule Gans zu sein. Und überhaupt wo sie dieses Buch denn herhabe?! Gestohlen aus der Bibliothek wahrscheinlich! Damals wusste Lerche noch nicht was sie darauf sagen sollte. „Es ist von Jonah." Ihre Lehrerin verstummte. Nur um eine Stunde später zu Ida zu gehen und ihr alles zu erzählen. Sie kamen in ihr Zimmer, nahmen ihr das Buch weg, schlugen sie und nannten sie eine Lügnerin. Und noch dazu eine die Jonahs Namen beschmutzte. Sie weinte und schrie und rief, dass sie doch recht hatte, dass sie ungerecht waren!

Am nächsten Tag kam ihre Lehrerin wieder mit dem Buch in der Hand und gab es ihr zurück. Sie hatte immer noch einen unschönen Abdruck auf ihrer Wange, dort wo die Hand der Frau sie getroffen hatte. Aber sie wusste, sie hatte gewonnen. Und sie strahlte. Es dauert nicht lange bis sie das nächste Buch bekam.

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