10. Kapitel

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Die Tür wurde mit einem Ruck aufgestoßen und Lerche wich, mäßig erschrocken, zurück. Ella hielt in ihrer Bewegung inne und ließ die Schürze sinken, die sie gerade hatte über ihr Kleid ziehen wollen. Marisa stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt, die Stirn ärgerlich gerunzelt. Sie trug ein weinrotes Kleid, verziert mit weißer Spitze. Lerche hatte es noch nie gesehen und es sah nicht wirklich nach etwas arbeitstauglichem aus.

"Ich habe geklopft."

Bei den meisten anderen Menschen hätte das nach einer Entschuldigung geklungen. Einer Entschuldigung dafür, einfach in ihr Zimmer zu platzen. Aber nicht bei Marisa. Bei ihr war es nur ein Vorwurf.

"Ich weiß. Deshalb wollte ich aufmachen." Vorwürfe konnte Lerche auch. Marisa öffnete bereits den Mund um etwas zu erwidern, aber Lerche kam ihr zuvor:

"Was ist los?" Sie würde niemals hier auftauchen, wenn es nichts Wichtiges gab. Sie waren keine Freunde, sie konnten sich nicht einmal besonders gut leiden. Und seit Lerche Sekretärin geworden war, hatte Marisa kein Wort mehr mit ihr gesprochen.

"Jonah ist hier." Marisa deutete an Lerche vorbei auf Ella "Wegen ihr, nehme ich an."

Lerche schluckte. Das nahm sie auch an. Aber das erklärte Marisas Anwesenheit nicht. Sie hätten schon früh genug gemerkt, was Sache war.

"Warum sagst du uns das? Du hättest doch einfach..." Ella unterbrach sie "Danke, Marisa." Sie kam zur Tür und stand nun neben ihr. Ihre Schultern berührten sich leicht. Marisa war unsicher, wie sie auf diese plötzlich freundliche Stimmung reagieren sollte, die Ella verbreitete. Sie biss sich auf die Unterlippe. "Kein Problem."

Die Stimmen am Ende des Ganges klangen aufgeregt. Lerche konnte eindeutig Juni heraushören, die zweite Frauenstimme erkannte sie nicht sofort. Die dritte gehörte Jonah. Sofort schossen Lerche und Marisa herum, als hätten sie sich abgesprochen und fixierten den Gang vor ihnen. Jonah wirkte entspannt. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und seine Haare waren ein wenig zerzaust. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, offenbar war es kalt draußen.

Neben ihm lief eine permanent schnatternde Juni, die unablässig zu ihm aufsah. Außerdem begleitete sie Hanna, die ein wenig aufgeregter wirkte als gewöhnlich. Marisa fuhr sich fahrig durch die Haare und setzte sofort ein Lächeln auf. Ein wenig zu künstlich für Lerches Geschmack. Aber Jonah erwiderte es und begrüßte sie. Marisa antwortete, immer noch übers ganze Gesicht strahlend. Es fehlte nur noch, dass sie sich verbeugte. Innerlich verdrehte Lerche die Augen. Aber der Ernst der Situation rief sie sofort zur Ordnung.

"Sollen wir vielleicht in den Gemeinschaftsraum gehen? Ich könnte auch Mathilda holen, falls das nötig ist und vielleicht..." Juni knete aufgeregt ihre Hände während sie sprach. Aber Jonah unterbrach sie sanft: "Nein, keine Umstände. Ich möchte nur einen Moment mit Elisabeth und Lerche sprechen." Lerche trat zur Seite, damit Jonah den Raum betreten konnte. Ella stand immer noch an derselben Stelle wie vorhin.


"Magst du dich nicht setzen?" Erwartungsvoll blickte Jonah Ella an. Er saß auf einem der zwei Stühle an ihrem kleinen, runden Tisch. Lerche hatte dahinter auf ihrem Bett platzgenommen. Sie würde nicht gehen, solange er sie nicht explizit wegschickte. Sie würde Ella nicht allein lassen. Jonah wirkte so unglaublich fehl am Platz in ihrer kleinen Kammer. Er war jemand der in große Säle gehörte, in Kirchen, in sein großes Haus. Aber nicht in diesen winzigen Raum. Seine Präsenz schien alles auszufüllen und Lerche konnte sich dem nicht entziehen. Aber trotzdem fühlte sie sich nicht wirklich unwohl. Er strahlte immer eine gewisse Geborgenheit für sie aus, selbst in diesem Moment.

Ella legte die Schürze mit zitternden Händen auf der Kommode ab und setzte sich. Sie faltete ihre Hände, straffte die Schultern und versuchte aufrecht zu sitzen. Aber Lerche sah, wie sich ihre Finger in den Stoff des Kleides krallten. Jonah legte eine Hand auf den Tisch und lächelte sie an.

SingvögelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt