3. Kapitel

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Es war klar, dass sie einen guten Moment abwarten musste. Am besten einen, in dem sie Mathildas und Junis wachsamen Augen entkommen konnte. Falls die Predigt heute Abend Jonahs war, dann könnte sie unter Umständen bei ihm sein, bevor die beiden Leiterinnen des Frauenhauses sie daran hindern könnten. Wenn er ihr zuhören würde, dann würden sie es nicht wagen sie zu unterbrechen. Aber das waren sehr viele Eventualitäten. Und sie musste sich beeilen. Sonst würden sie Teons Körper verbrennen.

Nach einer weiteren Stunde wurde ihr klar, dass Michael heute wohl nicht mehr auftauchen würde. Wahrscheinlich waren neue Lieferungen von Draußen gekommen und er hatte genug damit zu tun alles zu verteilen. Lerche hoffte schon seit einer Weile auf neue Stoffe. Ihr hellblaues Kleid hatte inzwischen zwei Löcher, die auch Ella nur schwer hatte zunähen können. Sie selbst war mit Nadel und Faden so ungeschickt, dass sie öfter in ihren Finger stach, als in den Stoff. Noch ein Grund warum sie dankbar für die Arbeit hier war.

Die meisten anderen unverheirateten Frauen verbrachten ihre Tage mit Feldarbeit, Nähen, Kochen, Putzen und allem was sonst noch so anfiel. Ein Leben, das sie sich nie so wirklich hatte vorstellen können. Sie hatte von Berufen im Draußen gelesen, vor allem als sie klein war und daran geglaubt hatte, dass es sie irgendwie auch hier geben könnte. Irgendwann. Aber die Zuflucht brauchte keine Feuerwehr, keine Anwälte, keine Bibliothekare. Früher hatte sie gern eine Liste im Kopf gemacht. Eine Liste aller Berufe die sie kannte und sie alphabetisch geordnet. A wie Arzt, Ärzte gab es hier auch, B wie Bademeister, die hatte es nur im Draußen gegeben, für C kannte sie keinen Beruf. Aber irgendwann hatte sie die meisten wieder vergessen und die Liste hatte keinen Platz mehr gehabt. Sie wurde von wichtigeren Gedanken verdrängt.

Lerche arbeitete verbissen bis zum Abend weiter. Hin und wieder tauchte Ember auf und holte einige der Unterlagen wieder aus den Kisten heraus, um sie Lucas zu bringen. Meist musste Lerche sie ihr heraussuchen, da Ember keine Ahnung hatte, was genau sie eigentlich holen sollte und wo sie es finden konnte. Wie immer wirkte sie ein wenig überfordert. Lerche wusste warum Ember hier war. Mit ihrem ständigen Husten, konnte sie kaum irgendeine anstrengendere Arbeit machen, als ein, zwei Stapel Papiere zu heben. Sie war ein liebes Mädchen aber nähen und kochen konnte sie auch noch nie. Also blieb nicht viel übrig, was sie für die Zuflucht tun konnte.

Sie schaffte es gerade so die letzten Kisten zu verschließen, als es zur Abendpredigt läutete. Diesmal blieb sie kurz stehen und nahm sich die Zeit ihre Haare ordentlich zurückzubinden. Nur für den Fall, dass sie Ella nicht treffen würde, was gar nicht so unwahrscheinlich war. Meistens gingen alle aus dem Frauenhaus gemeinsam zur Kirche hinüber und dann hatte Ella keine Chance auf sie zu warten.

Als sie den Platz erreichte, gehörte sie tatsächlich wieder einmal zu den letzten. Der Weg vom Verwaltungsgebäude zur Kirche war um einiges weiter als der vom Frauenhaus. Also würde Ella bereits drin sein. Sie schob sich zwischen zwei Männern hindurch, in die Kirche und zu einer der hinteren Bänke. Ihre Augen suchten die Reihe nach ihrer Freundin ab. Dort hinten war sie, am anderen Ende einer Reihe junger Frauen. Lerche lächelte ihr zu und Ella erwiderte das Lächeln. Juni und Mathilda saßen eine Reihe vor ihnen und warfen jedem strafende Blicke zu, der einen Mucks von sich gab. Heute würden sie das Stille-Gebot in der Kirche strikt durchsetzen. Die Ausnahmesituation von gestern war vorbei.

„Setz dich endlich." zischte eine Stimme hinter ihr und zog an ihrem Rock. Lerche fuhr herum und erkannte Marisa. Widerwillig setzte sie sich neben sie. „Du bist nicht Mathilda." zischte sie zurück. „Ja, aber du versperrst meine Sicht nach vorn." Als Lerche ebenfalls nach vorn sah, erkannte sie Jonah. Ihre Chance, ihre Gelegenheit. Stumm dankte sie Gott und den Engeln, die ihren Wunsch erfüllt hatten. Jetzt kam es nur noch auf sie an. Um sie herum nahmen die Letzten ihre Plätze ein. Anna gehörte dazu. Sie sah, falls das möglich war, noch schlimmer aus, als gestern. Magnus hatte recht gehabt. Ihre Augen waren rot unterlaufen, die Lippen bebten. Ihre dunkelblonden Haare sahen wirr aus und sie hatte sie nur notdürftig hochgebunden. Normalerweise wurde so ein Benehmen in der Kirche nicht geduldet, aber niemand sprach Anna darauf an. Nicht mehr lange, dachte Lerche. Das lassen sie ihr nicht mehr lange durchgehen. Ein, zwei Tage noch, danach wird von ihr erwartet, dass sie so weitermacht wie vorher.

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