„Kann ich noch irgendetwas machen? Wo sollen die Kartoffeln hin?" Lerche stellte den Korb zwischen zwei anderen ab und wischte sich mit einer Hand die Erde von der Stirn. Anna sah zu ihr hinüber „Oh, danke. Lass sie einfach dort. Ich räume auf." Sofort begann sie die Körbe hinab in den Keller zu tragen. Ella eilte herbei und nahm ihr einen ab, also folgte Lerche den beiden mit dem dritten Korb.
„Ihr beiden nehmt mir so viel Arbeit ab, vielen Dank." Anna stütze sich in den Türrahmen. Sie wirkte müde. „Das ist kein Problem. Wir können..." begann Ella, wurde aber von Anna unterbrochen. „Ich weiß einfach nicht was ich machen soll, seitdem, der Hof ist viel zu viel für mich und..." Ella ging sofort zu ihr und strich ihr über den Rücken, als Anna zu weinen begann.
„Wir sollten uns setzen und mal eine Pause machen." sie ging mit Anna zum Tisch und zog einen Stuhl für sie zurück. „Vielleicht machst du einen Tee, Lerche?" „Ja, natürlich." Lerche war erleichtert, dass Ella hier die Führung übernahm und sie nur tun musste, was ihr gesagt wurde. Annas Tränen überforderten sie. Die beiden jungen Frauen am Tisch sahen dabei zu wie Lerche Wasser in einen Topf gab und auf dem Herd erwärmte. Die Stille wurde nur hin und wieder vom Gegacker eines Huhnes oder einem leisen Schluchzen von Anna unterbrochen. Ella stand auf und schloss die Tür.
„Ich wollte gern Kinder, wisst ihr? Zumindest eines." sagte Anna leise. Lerche goss die Kräuter mit dem kochenden Wasser auf. „Tut mir leid, Anna. Es tut mir so leid, ich wünschte ich hätte..." Sie wusste nicht was sie sagen wollte. Was wünschte sie? Sie hätte Teons Tod verhindern können? Das war lächerlich. „Nein, Lerche du hast genug für mich getan. Ich werde nicht vergessen wie du dich für seine Beerdigung eingesetzt hast." unterbrach Anna sie, wurde dann aber wieder von einem Schluchzen geschüttelt. „Ich weiß nur einfach nicht wie ich hier weitermachen soll. Und ich vermisse ihn so schrecklich, ich habe niemals jemanden so geliebt wie ihn." Lerche stellte die Teekanne auf den Tisch und warf Ella einen hilflosen Blick zu.
„Ich bleibe hier. Vielleicht schaust du mal wie Magnus vorankommt?" fragte Ella leise. Lerche nickte, dankbar aus der Situation herauszukommen. Vorsichtig, wie um Anna nicht noch mehr zu verschrecken, öffnete sie die Tür und schlich hinaus.
Magnus kniete vor dem Zaun, der den Hühnerverschlag umgab und maß ein Stück Holz ab. Der Zaun hatte bereits seit dem Frühsommer ein Loch, aber inzwischen war es groß genug, dass die Hühner sich hindurchquetschen konnten. Als Teon noch lebte, hatten sie an einem Sonntag gemeinsam eines einfangen müssen. Es war anstrengend gewesen, ihm nachzurennen, aber auch irgendwie lustig. Das war das letzte Mal, dass sie Teon hatte Lachen sehen. Danach wurde es nur immer schlimmer, Tag für Tag.
„Kann ich dir hierbei helfen?" fragte sie betont fröhlich. „Sicher. Gib mir mal das Brett dort rüber." sie tat es und kniete sich neben ihn. „Ich konnte dir noch gar nicht gratulieren." er schlug das Brett an und grinste. „Sekretärin Lerche." Sie strahlte. „Ich werde alles allein planen können. Die Verteilung der Lebensmittel, neue Felder, alles Organisatorische!" „Ich kann es kaum fassen. Also nicht, dass ich dir das nicht zugetraut hätte..." er verhaspelte sich in seinem Lob. Aber sie lächelte. „Danke, Magnus." Trotzdem schien sie wohl nicht überzeugend glücklich zu wirken.
„Ist alles in Ordnung?" fragte Magnus. „Anna weint. Ella ist bei ihr, aber sie meinte es wäre vielleicht besser, wenn ich gehe. Ich bin nicht so gut im Trösten." Er hielt eines der Bretter fest, setzte den Nagel an und schlug ihn härter hinein als nötig. „Ich glaube niemand kann meine Schwester trösten, nicht einmal Elisabeth." Sie reichte ihm ein weiteres Brett. Er fuhr fort: „Ich habe es wirklich versucht. Aber da ist nichts zu machen. Sie hat ihn wirklich geliebt, sie wollte so sehr eine Zukunft mit ihm. Und sie macht sich verantwortlich, sie hat ihn versteckt, anstatt die Besessenheit zu melden." „Wir wissen nicht ob es das tatsächlich war." ermahnte Lerche. Magnus sah sie an. „Du bist intelligent. Wirklich intelligent. Aber selbst dir fiel nichts anderes ein. Er war besessen, Lerche, daran gibt es keine Zweifel. Und vielleicht hätte ein Exorzismus ihm geholfen." „Oder ihn umgebracht." „Oder das." Sie schwiegen und nagelten weiter Bretter vor das Loch im Zaun. War er besessen gewesen, oder nicht? Hätten sie helfen können, oder nicht? Sekretärin hin oder her, sie hatte ihren Freunden nicht helfen können. Und egal, wie forsch sie Ella gegenüber behauptet hatte, sie hätten keine Schuld, die Zweifel nagten an ihr. Wenn sie nicht aufpasste, würden sie sie zerfressen.
Irgendwann durchbrach Magnus die Stille. „Ich weiß das ist gerade kein gutes Thema. Aber ich wollte mit dir sprechen, bevor ich es tue. Am liebsten hätte ich mit ihr selbst gesprochen, aber..." Lerche brauchte einen Moment um mit ihren Gedanken wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Mit wem?" fragte sie dann. Er sah nervös aus, ließ einen Nagel immer wieder durch seine Finger wandern. Dann holte er Luft und sprach es aus: „Ich wollte bei der Verhandlung heute Abend darum bitten, Elisabeth heiraten zu dürfen." Lerche sog scharf die Luft ein. Sie hätte es sich denken können.
„Nein."
Die Antwort kam aus ihr heraus, bevor sie nachdenken konnte. Er sah erschrocken aus. „Ich meine, Ella ist eine Krankenschwester." „Jonah müsste entscheiden ob sie das bleibt oder ob sie meine Frau werden darf." warf er ein. „Und das sollte er nicht! Das sollte er nicht entscheiden müssen!." Magnus zog die Augenbrauen hoch. Lerche holte Luft. Sie würden niemandem helfen, wenn sie wütend wurde. Das Gefühl des Neides, dass noch vor einer Weile zwischen ihr und Ella gestanden hatte, war nun verschwunden. Sie war nun absolut sicher zu wissen, was Ella wollte. Was sie brauchte. Und das war nicht Magnus als Ehemann. Beruhigend legte sie eine Hand auf seinen Oberarm. „Sieh mal: Ella hat mir erst letztens absolut glücklich von ihrer Arbeit erzählt. Sie ist eine ausgesprochen gute Krankenschwester, das weiß ich und du weißt es auch." „Aber ich liebe sie, schon seit wir Kinder waren." das warf Lerche kurz aus der Bahn. Aber nur kurz.
„Jeder andere Mann, hätte einfach gefragt." begann Magnus nun „Ich müsste keine Frau um Rat bitten, ich hätte es einfach tun können. Und trotzdem sitzen wir hier und reden darüber." Sie versuchte ihren Ärger herunterzuschlucken. Aber es fiel ihr schwer, wirklich schwer. Beinahe hätte sie trotzig entgegnet, dass er ihren Rat sehr wohl gebraucht hatte, als es um Teons Beerdigung ging. Dass sie dafür gut genug gewesen war. Es würde nur zu nichts führen. „Und trotzdem sitzen wir hier." wiederholte sie. Dann schloss sie kurz die Augen.
„Ich kenne dich, Magnus. Du bist nicht so. Du hast mich gefragt, nicht weil du meine Erlaubnis bräuchtest, sondern weil du sie glücklich machen willst. Und sie zu heiraten, würde sie nicht glücklich machen und dich deshalb genauso wenig. Du erträgst keine unglückliche Ella." sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass sie fast darüber hinwegsehen konnte, dass sie sich selbst nicht sicher war. Vielleicht doch? Vielleicht könnte er es doch ertragen? Vielleicht würde er trotzdem darum bitten, oder jetzt erst recht.
Die beiden verstummten schlagartig, als sie Ella hinter sich auf dem Web bemerkten. „Wir sollten langsam zurück, was meinst du?" fragte sie Lerche. Die sah auf, wie ertappt. Ella legte den Kopf schief. „Was ist denn hier los? Ich dachte ihr repariert den Zaun?" „Oh, ja, aber ich mache das allein fertig, kein Problem." antwortete Magnus hastig „Niklas wollte eigentlich auch noch vorbeikommen, dann kann ich ja ihn dafür einspannen." Er lächelte.
„Ja. Wir sollten besser gehen." Lerche erhob sich und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Aber innerlich kochte sie immer noch. „Ich gehe mich von Anna verabschieden."
Als Lerche die Tür öffnete, räumte Anna gerade die Teekanne und die Tassen vom Tisch. „Geht ihr?" frage sie. „Ja, Wir müssen langsam. Wie geht es dir?" „Besser. Keine Sorge, ich komme zurecht. Ich habe ja noch meinen Bruder." sie lächelte zaghaft. Lerche nickte. „Trotzdem, falls etwas sein sollte, sind wir natürlich für dich da." „Du solltest dich erstmal auf deine Arbeit konzentrieren." sagte Anna ernsthaft „Dann wirst du sehr viel besser sein als Michael, da bin ich sicher."
Still lauschte sie Jonahs Worten bei der Predigt. Da sie zusammen zur Kirche gegangen waren, saß Ella heute neben ihr. Normalerweise wäre es ein schöner Abend geworden, aber sie war erstaunlich unkonzentriert. Die ganze Zeit starrte sie nach vorn zu Magnus, als könnte sie durch seinen Hinterkopf erkennen, was in ihm vorging. Hoffentlich würde er die Sache auf sich beruhen lassen. Selbst wenn nicht: Jonah würde doch sicher ablehnen. Das würde er doch? Mit ihren Fingern zeichnete sie kleine, unsichtbare Kreise auf die Holzbank.
Noch hatte sie Ella nichts von ihrem Gespräch mit Magnus erzählt. Warum auch? Sie würde sich unnötig sorgen, denn sie hatten nun sowieso keinen Einfluss mehr auf das was geschehen würde. Lerche biss wütend auf ihre Unterlippe. Sie war eine Sekretärin. Sie hatte einen der wichtigsten Posten der Zuflucht. Und trotzdem sperrten die Regeln, die für alle Frauen galten, sie immer noch in einen Käfig. Egal, wie gut sie war, egal was Jonah davon hielt, Magnus hatte mehr Rechte. Natürlich, denn das war von Gott so bestimmt. Aber es ärgerte sie.
„Ich wünsche euch allen eine gute Nacht." sie nahm Jonahs Lächeln nur flüchtig war, obwohl es heute Abend gar nicht so unwahrscheinlich war, dass es tatsächlich ihr galt. Lerche senkte sofort ihren Blick. Als würde er ihre verbotenen Gedanken lesen können. Was er vielleicht auch konnte, wer wusste das schon.
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Singvögel
Misterio / SuspensoDie Zuflucht ist ihre heile, perfekte Welt. Schließlich sind sie die einzigen Überlebenden der Apokalypse. Lerche ist eine von ihnen, doch die strengen Regeln schränken die junge Frau ein und je mehr sie beginnt zu hinterfragen, desto größere Gehei...