Ella begann sofort einige Sachen aus ihrer Schublade hervorzuholen. Natürlich hatte sie keine Medikamente hier, die hätte sie niemals aus dem Krankenhaus mitnehmen dürfen. Aber sie stellte eigene Salben und Tinkturen her, teils um zu üben, teils um den Frauen zu helfen, die mit kleineren Beschwerden zu ihr kamen. Lerche stöhnte. „Mathilda und Juni?" fragte Ella, während sie etwas aus der Kommode hervorkramte. Sie nickte. Ella beugte sich über sie „Die Wunde an deinem Kopf sieht nicht gut aus. Was ist da passiert?" „...auf dem Boden aufgeschlagen." presste Lerche hervor. „Vielleicht wäre es besser damit zum Krankenhaus zu gehen?" „Auf keinen Fall." Sie würde nicht zum Krankenhaus gehen. Diese Blöße würde sie sich nicht geben. Ja, sie würden ihre Wunden verbinden. Sie würden vielleicht sogar wissen wollen, was passiert war. Aber wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war nach ihrem Auftritt klar, was passiert war. Und wahrscheinlich würde ein Großteil der Menschen das auch für angemessen halten.
Ella reinigte die Wunde vorsichtig und Lerche genoss das Gefühl des kalten Wassers auf ihrer heißen, pulsierenden Stirn. Dann presste sie eine Mullkompresse darauf und umwickelte sie vorsichtig mit weißen Bandagen. „Wo ist die denn her?" „Die Kompresse?" Lerche nickte. Ella legte ihren Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: „Psst. Die ist einfach aufgetaucht." Dann half sie ihrer Freundin sich aufzusetzen.
Lerche fühlte sich immer noch ein wenig wacklig auf den Beinen und ihre Rippen schmerzten. Gern wäre sie einfach noch ein wenig hier sitzen geblieben oder hätte sogar geschlafen, aber das Läuten der Glocke auf dem Gang rief sie zum Abendessen. Ella sah besorgt zu ihr hinab. „Schaffst du es zu gehen? Oder soll ich Bescheid sagen, dass dir nicht gut ist?" Lerche antwortete nicht, rutschte aber langsam von der Bettkante und landete tatsächlich halbwegs auf ihren Füßen. Sie schüttelte den Kopf und machte einige unsichere Schritte zur Tür. Ella eilte ihr hinterher.
Sie brauchten sehr viel länger zum Speiseraum, als normalerweise. Als sie ankamen, war der lange Tisch schon beinahe voll besetzt. Die Frauen erzählten einander von ihrem Tag oder sprachen noch leise das Tischgebet. „Ich gehe schon und hole das Essen." Ella schob Lerche sofort auf die Bank, an der Stirnseite des Tisches. Sie ließ es sich gefallen, schloss die Augen und bedankte sich stumm für das Essen.
Das Abendessen war Eintopf und Brot. Lustlos tauchte Lerche ihres in die dünnflüssige Suppe. Dieser Tag sollte bitte einfach schnell vorüber gehen. Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, sich zu beschweren. Sie hatte gewusst, was sie erwarten würde und sie hatte sich dafür entschieden.
Hanna ließ sich gegenüber von ihnen nieder. Sie war nicht zum Abendgebet erschienen, allerdings war ihr das auch freigestellt. Wenn es eine Frau in der Zuflucht gab, die wirklich Sonderrechte genoss, dann war es Jonahs Bedienstete Hanna.
Sie starrte auf den Verband an Lerches Kopf und sagte dann: „Ich habe dich mit Jonah gesehen." Hanna ließ den Löffel sinken „Tut mir leid." „Ach, das muss es nicht." Lerche biss in ihr Brot. „Tut es aber. Sie würde sich das bei mir nicht trauen." Dieser Satz ließ Lerche und Ella gleichsam aufhören. Ella runzelte die Stirn. Hanna verstand und antwortete: „Oh, naja, weil Jonah es doch bemerken würde. Er wäre nicht einverstanden. Ich bin mir sicher, er ist auch nicht einverstanden, mit dem was dir passiert ist. Er..." Hanna schien zu realisieren was sie gesagt hatte, denn sie brach sofort ab. Hier sagte man besser nichts gegen Mathilda. Nicht in ihren eigenen vier Wänden. Nicht mal, wenn man Jonahs Bedienstete war.
„Bist du fertig?" Ella war aufgestanden, ihre Schüssel in der Hand. „Ja." Lerche wollte gerade anfügen, dass sie selbst gehen und ihr Geschirr wegbringen konnte, aber Ella schnappte sich bereits ihre Schüssel und nahm sie mit zur Küche. Hanna widmete sich wieder stumm ihrem Essen. „Danke, Hanna. Hab eine Gute Nacht."
Als Lerche aus dem Bad zurückkam, hatte Ella bereits die meisten Kerzen gelöscht. Ihre Freundin saß auf ihrem Bett, die Augen geschlossen, versunken in ihr Gebet. Was es wohl war für das sie heute betete? Ihre Genesung, wahrscheinlich, das würde Ella ähnlichsehen. Lerche nahm zwei der noch brennenden Kerzen vom Tisch und eines der Bücher aus dem Schrank. Natürlich hatte sie es schon öfter gelesen, aber es hatte etwas beruhigend die bekannten Textstellen wieder zu lesen. Sie stellte die Kerzen vorsichtig auf ihren Nachttisch, kroch unter die Decke und schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf. Sie musste sehr nah an die Kerzen heranrutschen, um die Buchstaben entziffern zu können. Aber sie mochte die wohlige Wärme die von ihnen ausging. Man fühlte sich geborgen und musste nur aufpassen, dass das Papier der Flamme nicht zu nah kam.
Ein Geräusch vor dem Fenster ließ sie von den Seiten aufsehen. Dann fiel ihr ein, das Mittwoch war. Zeit für eine Versammlung. Sicherlich würde es heute Abend kein anderes Thema geben, als Teons Tod. Den Angriff auf Teon. Den Mord an Teon. Lerche wünschte sie hätte dabei sein können. Sie hätte ja nichts sagen müssen, sie würde nur so gern hören, was gesprochen wurde. Aber sie war kein Mann. Und damit war das Thema erledigt. Sie gähnte und legte das Buch unter ihren Nachttisch. Normalerweise wäre sie noch eine Weile wachgeblieben und hätte weitergelesen. Aber heute war sie einfach zu erschöpft. Ihre Hüfte tat weh, die Wunde am Kopf pochte. Wahrscheinlich war es das Beste zu schlafen.
„Lerche?" Da war Ella ja wieder. „Wir sollten deinen Verband morgen wechseln. Erinnere mich daran, ja?" „Ist gut." Lerche rollte sich auf die Seite und wickelte die Decke um ihren Körper. Ella löschte die letzte Kerze.
„wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen." flüsterte Lerche die letzten Worte des Morgengebetes zwischen dem Gemurmel ihrer Sitznachbarinnen. Der neue Verband drückte gegen ihre Stirn und die Wunde hatte auch wieder angefangen zu pochen. Ella meinte allerdings das sei ein gutes Zeichen und dass die Wundränder gut aussehen würden. Was auch immer das hieß, wahrscheinlich dass es gut heilte, auch wenn es sich nicht danach anfühlte. Sie hoffte, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen würden. Dafür tat der Rest ihres Körpers nicht mehr so weh. Sie hatte immer noch einige wunde, aufgeschürfte Stellen, aber die kribbelten bereits und fühlten sich auch wirklich nach Heilung an. Als Nathaniel die Predigt beendete und ihnen einen schönen Arbeitstag wünschte, erhoben die Männer der ersten Reihe sich bereits. Die Reihe danach tat es ihnen gleich.
Lerche schob sich im Gedränge der anderen Mädchen auf den Platz hinaus, sie brachen um sie herum in fröhliches Geschnatter aus. Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen, sondern fuhr mit der Hand unter den drückenden Verband und versuchte so ihn ein wenig zu lockern. Zwecklos. Magnus fiel ihr auf. Er hätte den Platz schon längst verlassen können, immerhin saß er in der ersten Reihe. Hatte er aber nicht. Er stand ein wenig abseits und schien auf jemanden zu warten. Lerche drängte sich durch die Frauengruppe und versuchte möglichst unauffällig zu ihm zu gelangen.
„Magnus!" sie hielt ihre Stimme gesenkt und er antwortete im selben Tonfall: „Da bist du ja! Ich wollte mich entschuldigen..." er rückte unsicher den Kragen seines Hemdes zurecht „wegen deiner Verletzung. Ich hätte wissen müssen, dass sie dich bestrafen würden und..." „Ist schon gut." Aber er ließ nicht locker. „Nein, ist es nicht. Ich habe dich in eine unmögliche Situation gebracht, ich hätte das wie ein Mann selbst regeln sollen. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann sag es mir." Es gab tatsächlich etwas, dass er tun konnte. Nichts Großartiges, nichts Drastisches, aber er konnte ihr helfen. „Kannst du heute zu mir ins Verwaltungsgebäude kommen? Oder morgen? Ich bin wahrscheinlich wieder allein und ich würde dich gern etwas fragen." Magnus nickte stumm, glücklich etwas tun zu können um sich zu revanchieren. Lerche verabschiedete sich mit einem Lächeln und rannte der Gruppe hinterher.
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Singvögel
Mystery / ThrillerDie Zuflucht ist ihre heile, perfekte Welt. Schließlich sind sie die einzigen Überlebenden der Apokalypse. Lerche ist eine von ihnen, doch die strengen Regeln schränken die junge Frau ein und je mehr sie beginnt zu hinterfragen, desto größere Gehei...