16. Kapitel

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„Sieh mal, ist das hier nicht deine Jacke?" Lerche wedelte mit der blauen Wolljacke in der Luft herum, um Ellas Aufmerksamkeit zu erregen. Diese sah allerdings nur kurz auf.

„Ja, eigentlich schon. Aber du kannst sie behalten und mitnehmen, wenn du magst." sie zwinkerte Lerche zu „Du weißt schon, als Verlobungsgeschenk."

Sie runzelte die Stirn und warf die Jacke dann zu ihrer Freundin aufs Bett. Lachend fing Ella sie auf, faltete den weichen Stoff zu einem Knäul zusammen und warf es zurück. „Ich meine es ernst. Falls du nicht mehr bei mir wohnst, dann hast du wenigstens etwas von mir dabei."

Nun legte Lerche die Jacke doch zu ihren eigenen Sachen.

„Vielleicht ziehe ich auch gar nicht um. Ich arbeite schließlich und wir sind nicht verheiratet, das wäre eigentlich nicht erlaubt. Niemand lebt mit seinem Verlobten zusammen, bevor sie nicht geheiratet haben." Ella machte ein missbilligendes Gesicht und rutschte von der Bettkante. „Es ist Jonah. Er muss das entscheiden und für ihn gelten die Regeln nicht, das weißt du doch. Zumindest nicht so wie für uns." Mit dem Fuß schob sie einen Stapel Kleidung auf dem Boden auf Lerches Zimmerseite hinüber. „Und wir sollten zum Frühstücken gehen. Wir sind jetzt schon spät."

Auf dem Weg nach unten hatte Ella, wie beinahe immer, bereits ihre Arbeitskleidung dabei und Lerche hatte ausnahmsweise auch daran gedacht einen Pullover für den Weg zur Kirche mitzunehmen. Schließlich war es bereits Oktober. Die warmen, sonnigen Tage, an denen man früh ohne Jacke nach draußen gehen konnte, waren endgültig vorbei. „Habt ihr nicht den Sohn von Ethan bei euch im Krankenhaus? Ember hat gestern Abend noch davon erzählt. Aber ich war..." Lerche fiel kein passendes Wort ein um ihren Gefühlszustand gestern zu beschreiben. Es war alles zu surreal, Worte schienen das nicht ausnahmsweise nicht ausdrücken zu können, egal wie viele schöne Wörter sie kannte. „Abgelenkt?" half Ella ihr aus.

Sie nickte, auch wenn das nur ein Bruchteil von dem beschrieb, was Jonah in ihr auslösen konnte. „Ja, der Kleine ist bei uns." beantwortete Ella die Frage trotzdem „Sein Name ist Benjamin, sie haben ihn gestern vom Kinderhaus rüber gebracht. Aber es scheint nicht so schlimm zu sein, wie es anfangs aussah. Ich werde heute wieder nach ihm sehen, Ida und Beatrice sind ja sowieso die Nacht über da." „Was hat er denn?" „Ach, er hat mehrmals erbrochen und ein wenig erhöhte Temperatur. Aber sonst hat er keine Schmerzen. Wer weiß, vielleicht hat er etwas Falsches gegessen. Ich denke, das sollte er gut wegstecken."

Das heutige Frühstück beinhaltete leider nicht mehr so viel Obst, wie im Sommer. Lerche rührte ein wenig in ihrem Haferbrei herum und überlegte, ob es nicht irgendwie möglich wäre, ein wenig Obst und Gemüse auch nach der Saison zu halten. Früher hatten die Menschen Dinge eingefroren, soweit sie wusste, in Kühlschränken oder anderen Arten von kalten Boxen. Vielleicht konnte man so eine irgendwoher beschaffen? Ihr war nicht ganz klar, wie die Kälte und das Eis innerhalb der Box blieb und nicht taute, aber sie würde sich freuen es herauszufinden. Eine Kältespirale vielleicht, ähnlich wie bei einer Heizung? Sie sollte Jonah fragen, ob sie einen Kühlschrank haben könnten.


Sie saß ein wenig gequetscht auf der kalten Kirchenbank zwischen Ella und einem jüngeren Mädchen, das permanent auf ihren Fingernägeln kaute. Ella hatte sie gegrüßt und angelächelt, aber Lerche hatte leider wirklich keine Ahnung wer sie war. Sie hatte nur wahrgenommen, dass sie mit Marisa gekommen war, die nun links von ihr saß.

Es war Nathaniels Predigt, er trug sein Priestergewand und wartete geduldig hinter dem Altar bis sich alle gesetzt hatten. Kein anderer der Hohen Herren war anwesend, bis auf Jonah. Er kam spät, als die Kirche bereits gefüllt war und grüßte freundlich diejenigen die außen saßen. Sie streckte sich und versuchte seinen Blick zu erhaschen, war aber eindeutig zu klein, um über die anderen hinwegzusehen.

Aber er fand sie. Jonah blieb stehen, hob eine Hand, lächelte und winkte ihr zu. Die Blicke in ihrer Reihe schossen augenblicklich zu ihr hinüber, denn es war absolut klar, dass diese Geste, im Gegensatz zu allen Begrüßungen davor, nur einer einzigen von ihnen galt. Aber sie achtete nicht darauf, stattdessen hob auch sie die Hand und winkte ihm zu.

Später würde sie sich mehr an das Gefühl erinnern, dass sie in dem Moment gehabt hatte, als an die Predigt, obwohl es eine ihre liebsten Bibelstellen war. Aber dieses Kribbeln in ihr, diese Aufregung war viel stärker als Nathaniels Worte. Es war das unumstößliche Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. Etwas Großes, etwas Grundlegendes.

Nathaniel verließ das Podium, noch bevor er tatsächlich Lerches Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Und es folgte ein unsicherer Moment, in dem sich alle umsahen, aber keiner wagte aufzustehen. Man verließ die Kirche nicht, wenn man nicht dazu aufgefordert wurde. Aber als Jonah aufstand, entspannte die gesamte Versammlung sich. Alle außer Lerche, der schlagartig klar wurde, was er verkünden würde. Auf einmal fiel ihr ein, dass ihre Haare gut sitzen sollten. Unruhig begann sie, daran herumzufummeln und sie neu zusammenzubinden.

„Meine Lieben." Jonah klang feierlich und er strahlte regelrecht. „Ich möchte euch nicht lange aufhalten, ich weiß ihr habt sicherlich zu tun. Nur möchte ich euch kurz eine kleine Änderung für uns alle mitteilen. Vor allem für mich. Denn ich werde Lerche heiraten."

Überraschung, überall um sie herum, war die erste Reaktion. Es wurde unruhig, eine freudige, aufregende Unruhe. Die Verlobung oder sogar Hochzeit eines wichtigen Mitglieds der Zuflucht, war immer eine große Sache. Und hier ging es um das wichtigste Mitglied überhaupt. Jonah trat in den Gang hinein, räusperte sich und streckte dann die Hand in ihre Richtung aus. Er war es natürlich gewohnt, die ungeteilte Aufmerksamkeit vieler Menschen zu haben. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, war sogar er ein wenig unsicher.

Lerche stand auf und Ella zog sofort die Beine an, damit sie hindurch konnte. Sie durfte hier nicht sprechen, aber ihr breites Lächeln war unübersehbar. Sanft schob sie Lerche nach vorn. Sie musste aufpassen, wo sie hintrat, um niemandem auf die Füße zu treten, also blieb sie dicht an der Bank vor ihr. Aber die meisten Mädchen versuchten ihr Platz zu machen und rückten zusammen. Bis auf Marisa. Sie starrte sie einfach nur an, rührte sich kein Stück und biss sich auf die Unterlippe. Sie sah aus, als hätte Lerche ihr gerade ins Gesicht geschlagen. Wütend, verletzt und unschlüssig wie sie reagieren sollte.

Aber Lerche wandte sich ab und griff nach Jonahs Hand.

Sie hielt sie immer noch, während sie zusahen, wie die Menschen die Kirche verließen. Es war seltsam die hinausströmende Masse zu beobachten und irgendwie kein Teil mehr davon zu sein, zumindest nicht nur. Ihr Leben hatte sich gewandelt, seit sie Jonahs Sekretärin geworden war und es würde sich noch sehr viel mehr wandeln, seit sie seine Verlobte war. Es waren nicht nur sie beide. Es waren unweigerlich alle um sie herum, die sich ändern mussten. Sie begriff, dass diese Verlobung keine einfache Sache war. Es war nicht irgendeine Hochzeit, nicht irgendein Mann. Jonah hatte sie ausgesucht und auf ein Podest gehoben, zu dem alle anderen empor sehen mussten. Und es war einfach alles, was sie sich je gewünscht hatte, der Traum jeder Frau.

Jonah stupste sie in die Seite. „Lerche? Hilfst du mir kurz aufräumen?" „Ja."

Sie drehte sich um, sah ihm in die Augen, grinste und dann folgte sie ihrem ersten Impuls einfach und fiel ihm um den Hals. Sie legte den Kopf auf seiner Schulter ab und er strich ihr sanft über die Haare. „Alles in Ordnung? Du bist doch sonst nicht so anhänglich." „Danke." flüsterte sie „für alles. Für meine Arbeit und für... das hier."

Er begann leise zu lachen. „Ich danke dir auch." Sie hob den Kopf und runzelte die Stirn. „Wofür denn?" „Dafür dass du wirklich wunderbar bist und mich an das erinnerst, was ich immer wollte, an meine Aufgabe." er zog sie mit. „Außer jetzt gerade, wo wir eigentlich aufräumen wollten."

SingvögelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt