Singvögel

9. Kapitel

„Amen."

Ella beendete ihr Gebet als Lerche das Zimmer betrat. Sie hatte immerhin ein wenig essen können, ganz im Gegensatz für Ella. Die gerade die Augen wieder öffnete und nun zumindest ein klein wenig zuversichtlicher aussah.

„Für Barbara?" fragte Lerche.

„Ja." Sie ließ sich auf den Hocker sinken. Die weißen Umhänge und Schleier lagen immer noch auf dem Tisch, unangetastet.

„Wir hatten kurze Zeit Zimmer nebeneinander, oder? In der zweiten Etage." sie war sich nicht sicher ob es einfacher werden würde, wenn sie über Barbara sprachen. Aber sie war an diesem Abend so präsent in ihren Gedanken wie niemand anders. Ella bejahte. „Wer sind ihre Eltern? Weißt du das?" frage Lerche weiter.

„Keine Ahnung. Aber ich glaube sie hat einen Bruder."

Lerche warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Noch zwanzig Minuten. Und sie mussten noch zum Gemeindehaus laufen. „Wir sollten los." sagte sie leise.

„Ich habe Angst." Ella stand auf und kam auf sie zu. Lerche legte erst ihre Arme auf ihre Schultern und zog sie dann in eine Umarmung. „Das musst du nicht. Denk dran: das ist nicht deine Verantwortung. Ich bin die ganze Zeit bei dir. Alles wird gut."

Am liebsten hätte sie Ella hiergelassen. Sie hätte sogar ihren Stein geworfen, wenn es hätte sein müssen. Aber so funktionierten die Strafen nicht. Alle mussten sich beteiligen. Alle die frei von Sünde waren, und das sollten alle Mitglieder der Gemeinde sein, mussten einen Stein werfen. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass man quasi eine eigene Sünde gestand, wenn man nicht warf. Deshalb war es eine relativ beliebte Methode möglichst daneben zu werfen. Lerche hatte es bereits bei ihrer ersten Strafe erlebt. Die Familienmitglieder oder engen Freunde warfen alle daneben. Allerdings gab es immer noch genügend Leute die bereit waren, eine Sünde auch tatsächlich zu bestrafen.

Die Strafe fand zum ersten Mal statt, kurz nachdem die Zuflucht entstanden war. Sie war nicht Jonahs Idee gewesen, sondern sie stammte von seinem Vater. Er hatte entschieden, dass sie eine gerechte Form der Bestrafung und gleichzeitig ein Urteilsspruch Gottes war.

Sie würden ihre Gesichter verbergen, für den Fall, dass der Bestraftete starb, war nicht klar, wer den letzten Stein geworfen hatte. Die Schleier und Umhänge waren weiß. Denn sie traf keine Schuld., alle Schuld lag beim Sünder. All dieses theoretische Wissen über die Strafe hatte sie in der Schule gelernt und ging es nun in ihrem Kopf wieder durch.

„Soll ich dir helfen?"

Ella nestelte unruhig am Bändchen ihres Umhanges herum. Lerche wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging zu ihr hinüber und rückte den Umhang auf Ellas zarten Schultern zurecht. Er war ihr ein wenig zu lang und hing bis zum Boden. Auf einmal kam ihr Ella viel jünger vor, als 18. Sie sah wieder aus, wie das kleine Mädchen, dass sich auf dem Platz übergeben hatte, Tränen in ihren Augen. Die Strafe war für einige zu viel, aber Ella hatte es damals besonders getroffen. Die blonden Haare hatte sie bereits nach oben zusammengebunden. Lerche nahm den Schleier und befestigte ihn in Ellas Haaren. Sich um ihre Freundin zu kümmern, half ihr zu ignorieren, dass ihr eigenes Herz bis zum Hals schlug.

„In Ordnung?" fragte sie und Ella nickte.

Dann setzte sie ein Lächeln auf. Auch ohne sie lange zu kennen, hätte Lerche bemerkt das es gespielt war. Ella war keine gute Lügnerin. „Ich gewöhne mich schon noch daran." „Ja, sicherlich."

Die Menschen drängten sich bereits vor dem Gemeindehaus zusammen, als sie ankamen. Sie achtete darauf Ella im Gedränge nicht zu verlieren. Die Luft war bereits abgekühlt und ihr weißer Umhang spendete kaum Wärme. Sie hätte einen Pullover darunter anziehen sollen. Ella starrte auf den Boden und Lerche sah sich um. Hinter den Schleiern konnte sie keine Gesichter erkennen, aber sie war sich relativ sicher Niklas zu sehen und daneben Magnus und Anna. Aber sich zu ihnen zu drängeln wäre schwierig und hätte sowieso keinen Sinn. Sie würde schon genug Mühe haben bei Ella zu bleiben.