„Nein, ihr könnt an dieser Stelle nicht bauen, wie oft soll ich mich denn noch wiederholen?" antwortete Lerche ruhig. „Aber wir... Wir brauchen dort den Stall!" Lillian schien zornig. Sie lehnte sich auf dem Stuhl nach vorn, über den Tisch, Lerche entgegen. Aber die ließ sich davon nicht beirren. Sie wusste was sie tat.
Lillians Mann brachte seine Frau mit einer Geste zu Schweigen, bevor er selbst das Wort ergriff: „Du bist hier doch nicht für die Pläne zuständig. Du bist kein Sekretär. Wo ist denn Michael?" er versuchte höflich zu klingen, aber sie hörte den Unterton deutlich heraus: Abschätzigkeit. Sie sollte sich nicht so viel herausnehmen. Bloß nicht die Fassung verlieren. Das war es nicht wert. „Der wird dir auch nichts anderes sagen. Ihr könnt bauen, aber 50 Meter weiter links. Dort wo ihr bauen wollt, ist Ackerland. Und zwar nicht eures, wie ich euch seit 15 Minuten versuche zu erklären." Sie setzte gerade an, erneut zu argumentieren, dass es Verschwendung wäre auf dem Acker zu bauen, selbst wenn er momentan nicht bewirtschaftet wurde, als die Tür ruckartig aufgestoßen wurde.
Michael stand darin und zog fragend die Augenbrauen hoch, als er Lerche hinter seinem Schreibtisch sah. Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre. Aber normalerweise holte sie ihn bei solchen wichtigen Anliegen, wie sie es sollte. Sie stand sofort auf um ihm Platz zu machen. „Die kleine Lerche hier," begann Lillians Mann und versuchte gar nicht mehr seine Stimme besonders nett klingen zu lassen „möchte uns verbieten neben unserem Grundstück, auf einem unbenutzten Stück Land zu bauen." Michael setzte sich hinter den Schreibtisch und warf einen kurzen Blick auf den Plan darauf. Den Plan, den sie gezeichnet hatte. Mit den Grundstücken, die sie vermessen hatte.
„Es tut mir leid, ich entschuldige mich für ihr Betragen." Lerche biss sich auf die Unterlippe. Dieser Heuchler. Sie war gut genug um sämtliche Arbeit für ihn zu erledigen, aber er heimste die Früchte dafür ein. „Aber sie hat leider recht." Na immerhin. „Lerche?" Michael sah jetzt zu ihr. „Würdest du noch draußen den Flur fegen, bevor du Schluss machst?" Es war keine wirkliche Frage. Sie nickte und ihr blieb nichts anderes übrig als den Raum zu verlassen.
Lerche zog ein ärgerliches Gesicht, angesichts dieser völlig ungerechtfertigten Strafarbeit. Aber dann begann sie zu tun was ihr gesagt wurde. Wie immer. Sie war eine sogar ganz gut darin geworden sich im Hintergrund zu halten, still zu sein und brav. Aber manchmal wünschte sie, sie wäre immer noch die 12-jährige mit dem Buch auf dem Schoss im Unterricht und dem siegessicheren Lächeln. Manchmal hatte sie das Gefühl es war, auf eine verquere Art, einfacher gewesen.
Als sie endlich fertig war und das Gebäude verließ, läuteten die Glocken der Kirche bereits zum Abendgebet. Sie stellte den Besen fein säuberlich in die Ecke und lief über den kleinen Weg in die Mitte der Zuflucht. Die Kirche befand sich genau in der Mitte des Kreises, den die Siedlung bildete. Sie war das Zentrum von allem, das Zentrum ihres Lebens, der wichtigste Ort ihrer Welt.
Ella wartete in der Straße hinter dem Markt auf sie. Wie sie es immer tat, wenn Lerche abends von der Arbeit zur Kirche kam. „Deine Haare sind nicht ordentlich." begrüßte sie sie. Lerche begann sofort ungeschickt das Band wieder um ihre Haare zu schlingen, dass sie eigentlich zusammenhalten sollte. „Lass mich." Ellas Finger schoben ihre beiseite und das weiße Band zurück an seinen Platz. Geschickt wickelte sie es um das Vogelnest dass ihre Haare bildeten und band sogar eine kleine Schleife. „Du solltest sie mal wieder schneiden. Sie werden zu schwer." murmelte sie. „Was würde ich nur ohne dich und deine wunderbaren Ratschläge tun?" meinte Lerche. Es war halb Scherz, halb Ernst. Ella lächelte ihre Freundin an und zog sie dann mit.
Es war Samuels Predigt. Er hatte nicht dieselbe schöne Stimme um Dinge vorzutragen wie Jonah, er klang nicht einmal wie Lucius. Er war routiniert, aber nicht dramatisch genug um ihre Aufmerksamkeit lange zu behalten. Sie kannte den Vers. Sie kannte die gesamte Bibel. Aber wenn ihr Jonah davon erzählte, zeigte er ihr Stellen die sie kannte und auch wieder nicht. Aspekte die sie übersah, Metaphern die sie nicht wahrnahm, wichtige Sätze, die sie sonst als weniger wichtig erachtete. Samuel nicht. Ella neben ihr sah nach vorn und lächelte gedankenverloren. Sie wirkte als wäre sie ganz woanders. Sie tat dies manchmal. Sie war an diesem Ort, an dem sie niemand erreichen konnte, keiner der Hohen Herrn, keines der Mädchen, nicht mal Lerche. Völlig versunken in ihren eigenen Gedanken, die selbst ihre Freundin nur erahnen konnte.

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Singvögel
Mystery / ThrillerDie Zuflucht ist ihre heile, perfekte Welt. Schließlich sind sie die einzigen Überlebenden der Apokalypse. Lerche ist eine von ihnen, doch die strengen Regeln schränken die junge Frau ein und je mehr sie beginnt zu hinterfragen, desto größere Gehei...