6. Kapitel

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Samstagmorgen hatte Ella den Verband endgültig entfernt, damit Luft an die Wunde gelangen konnte. Lerche kam noch nicht so recht damit klar, dass das drückende Gefühl auf ihrer Stirn verschwunden war. Kurz vor dem Abendgebet war sie ins Bad gegangen um ihre Haare vor dem Spiegel zu einem Zopf zu binden. Als Michael noch da war, hatte sie sich so etwas nicht erlauben dürfen. Es war immerhin Arbeitszeit, die sie verschleuderte. Aber jetzt konnte sie tun was sie wollte. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, lächelte und fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Stirn. Das würde eine Narbe bleiben. Aber sie war es wert gewesen.

Zu ihrer Überraschung stand Ella vor dem Verwaltungsgebäude. „Kai hat mich eher gehen lassen. Da dachte ich, ich komme dich abholen." Sie lächelte, in der Abendsonne glitzerten ihre blonden Haare rötlich, als würden kleine Funken darin herumspringen. Fröhlich hakte Lerche sie bei ihrer Freundin unter und zog sie mit. „Lass uns morgen zu Anna gehen, ja? Magnus wird sicher auch da sein." schlug sie vor. Ella nickte und begann dann begeistert von ihren Salben und Medikamenten zu erzählen. Lerche schwieg und hörte zu, während sie zwischen den Obstwiesen hindurch liefen. Die ersten Grillen zirpten bereits.

„Was hältst du eigentlich von Magnus?"

Lerche verstand nicht. Was sollte sie schon von ihm halten? Sie sah wohl verwirrt aus, was Ella dazu brachte sich zu erklären. „Magst du ihn? Würdest du ihn gern heiraten?" Da war es wieder. Das unangenehme Gefühl bei diesem Gedanken. Sie hatte es in letzter Zeit gut verdrängt, aber es schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr. Lerche biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. „Aber er wäre toll. Toll für dich. Er würde dir sicher sogar deine Bücher erlauben. Er hat einen Hof und vielleicht könntest du..." „Er wäre toll für dich." unterbrach sie „Er fragt sowieso öfter nach dir. Du bist ihm wichtig." Ella schüttelte den Kopf. „Ich bin eine Krankenschwester. Ich heirate nicht und das weiß er auch." Lerche starrte zu Boden.

Der Gedanken daran, dass Ella arbeiten würde, während sie sich um ein Haus und Kinder kümmerte stand schlagartig zwischen ihnen. Er war eine undurchdringliche Wand. Sie wollte nicht, aber sie kam nicht drumherum neidisch zu sein. Im Draußen war es anders gewesen. Frauen hatten arbeiten und heiraten dürfen. Sie hatten eine Familie und sie hatten die Arbeit, die sich selbst aussuchten. Aber in der Zuflucht war so etwas unvorstellbar. Ella stupste sie an. „Lerche?" Sie setzte ein fröhliches Lächeln auf und wechselte das Thema. „Sieh mal, meine Haare." Ella lachte. „Ja, du wirst immer selbstständiger. Bald brauchst du mich nicht mehr." „Sag das nicht! Ich brauche dich immer."

Samuels Predigt war langweilig, wie immer. Selbst die Mädchen neben ihr, hörten nicht mehr richtig zu und rutschten unruhig hin und her. Marisa wickelte immer wieder eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger, ließ sie los und begann von Neuem. Bis Samuel mit den Worten endete: „Ich würde euch nun gern noch um einen Moment Geduld bitten." Die Blicke richteten sich nun doch wieder nach vorn.

Jonah erhob sich von der Bank der Hohen Herren, flüsterte Samuel etwas zu und tauschte dann seinen Platz mit ihm. „Ich lasse euch gleich gehen, keine Sorge. Aber vorher habe ich etwas zu verkünden." Er schlug die Bibel zu und schob sie zur Seite. „Ihr wisst vielleicht, dass wie seit einigen Tagen nur noch einen Sekretär haben." Diese Nachricht musste für einige hier neu sein. Aber nicht für sie. Lerche hätte jetzt gern Michaels Gesicht gesehen. Er musste mehr als nur gekränkt sein, auch wenn Jonah seinen Namen nicht ausgesprochen hat. „Diese Entscheidung hatte verschiedene Gründe, aber klar ist, dass wir jemand neuen für die Position benötigen. Und ich habe entschieden wer das sein wird."

Die Frauen um sie herum wirkten irritiert. Irgendwo vernahm sie sogar ein leises Flüstern. Normalerweise würde so etwas in der Versammlung besprochen werden und die war schon morgen. Es gab eigentlich keinen Grund das hier bekannt zu geben. Jonah hätte es einfach bei der Versammlung tun können. Außer er...

„Ich möchte diesmal jemanden auf den ich mich verlassen kann." fuhr er lächelnd fort „Jemanden, bei dem ich mir sicher sein kann, dass er mich nicht wieder enttäuscht mit vermeidbaren Fehlern. Also dachte ich es wäre am besten diese Position einem von euch zu geben, der die Arbeit bereits kennt." Lerche krallte ihre Finger in ihr Kleid. Das konnte nicht sein. Sie musste sich irren. Das war zu schön um wahr zu sein. „Und das ist Lerche."

Das hatte es noch nie gegeben. Das war gegen alle Regeln. Oder auch nicht, denn Jonah machte die Regeln. Und er hatte beschlossen, sie zu ändern. Für sie. Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Kommst du kurz zu mir?" Unsicher stand Lerche auf und schob sich durch die Reihe. Mathilda sah aus, als hätte sie einen Dämon gesehen. Wäre Lerche nicht so irritiert und gleichzeitig aufgeregt gewesen, sie hätte gelacht. Ella grinste dafür übers ganze Gesicht. Und dann, ganz langsam, schlich sie auch auf ihr Gesicht ein Lächeln. Ihr Traum. Alles was sie wollte, war so eben erfüllt worden. Sie war auf einmal etwas Besonderes. Wie Hanna. Wie Mathilda. Nun ja, nicht ganz wie Mathilda, aber beinahe.

Lerche stand neben Jonah, sie war mehr als einen Kopf kleiner als er. „Bitte, einen Applaus für unsere neue Sekretärin!" Er begann zu klatschen und die gesamte Versammlung tat es ihm gleich. Fast alle, die jetzt für sie klatschten, hätten sie für verrückt gehalten, wenn sie ihnen von diesem Traum erzählt hätte. Wahrscheinlich wäre sie sogar bestraft worden. Aber jetzt nicht mehr.

Sie sah nicht in die Reihen vor ihr, sie sah nur zu Jonah. Dieser Mann war das wundervollste, was sie je gesehen hatte. Der, der ihre Träume erfüllte. Sie konnte das Licht beinahe fühlen, dass von ihm ausging. Sie hatte immer gedacht Jonah war besonders, weil Gott ihn auserwählt hatte. Aber vielleicht war es andersherum. Vielleicht war das einfach was er war, so strahlend, dass niemand, nicht mal die Engel, wegsehen konnten.

Der Applaus hallte von den Wänden wider. Sie suchte nach ihrem Vater. Sie wollte nun doch sein Gesicht sehen, jetzt da sie es soweit geschafft hatte. Er, der sich immer einen Sohn gewünscht hatte, sollte ruhig sehen, was seine Tochter erreicht hatte. Sie fand ihn nicht. Aber jemand anders erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Jemand aus der ersten Reihe. Die Hohen Herren hatten bis jetzt still lächelnd zugesehen, sie glaubte sogar sie hätte Nathaniel klatschen sehen. Nicht aber Lucius. Er starrte sie an, als wäre sie ein störendes Insekt. Als er sich erhob, verstummte der Applaus schlagartig. Auch Jonah sah nun zu ihm hinab, eher interessiert, als verärgert. Lerche straffte ihre Schultern und versuchte möglichst gerade zu stehen. Lucius war zwar nicht Jonah, aber als ältester der Hohen Herren hatte er seine ganz eigene Autorität. „Setzt du dich bitte wieder?" fragte Jonah sanft.

„Nein."

Die Stimmung war schlagartig von Freude zu erschrockener Aufmerksamkeit gewechselt. Blicke wurden ausgetauscht, die Leute wussten nicht wie sie reagieren sollten. „Du bestimmst Lerche für einen Posten, der einem Mann vorbehalten sein sollte. Das..." Lucius hob den Arm und zeigte auf sie „ist nicht Gottes Wille." Lerche verschränkte entrüstet die Arme vor der Brust. Das würde nicht passieren. Lucius würde ihn nicht wieder wegnehmen, was sie gerade erst bekommen hatte. Sie würde...

Jonahs Hand auf ihrem Arm beruhigte sie.

„Ich habe dir die Gründe für meine Entscheidung genannt. Du behauptest das wäre nicht Gottes Wille." Jonah schob sie ein Stück zurück und verließ das Podest ohne sie. „Aber mein Wille ist Gottes Wille."

„Nun, dann verstehe ich deine Gründe nicht!" Die beiden Männer standen sich nun direkt gegenüber. „Dein Vater hätte nicht..." Jonah hob die Hand. Das ultimative Zeichen für Lucius, dass er nun zu Schweigen hatte. Aber er überging es. Etwas, das sich sonst wahrscheinlich niemand getraut hätte. „Dein Vater hätte keine Frau für so eine Position ausgewählt, und du..." Als Jonah wieder sprach war jegliche Sanftheit aus seiner Stimme verschwunden. „Du musst meine Gründe nicht nachvollziehen können, aber du wirst dich damit abfinden müssen. Ich bin nicht mein Vater und er hat hiermit nichts zu tun. Meine Entscheidung ist endgültig." Er ging einen Schritt zurück und ließ Lucius ein wenig Platz.

„Ich fordere dich hiermit, vor allen, zum letzten Mal auf: Setz dich hin, Lucius." seine Stimme war schneidend wie ein Schwert. Lucius starrte sie feindselig an, den Mund zu einem Strich zusammengepresst. Die Stille war nervenaufreibend. Dann setzte er sich. Jonah kam zurück zu ihr. „Ich verlange nicht, dass du für sie klatschst. Aber ich verlange, dass du mich niemals wieder so infrage stellen wirst. Denn das bedeutet Gott selbst infrage zu stellen." Alle Blicke ruhten nun strafend auf Lucius. Er senkte den Kopf. „Ich bitte um Vergebung, Herr." Jonah lächelte nun wieder. „Schön. Damit sind wir für heute fertig." Er half Lerche vom Podest hinab.

SingvögelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt