15. Kapitel

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Die letzten Töne des Liedes hallten in der Kirche wieder und schienen noch einen Moment darin verharren zu wollen. Lerche streckte sich, war in Gedanken bereits bei ihrer Arbeit und erhob sich dann. Geduldig wartete sie bis die Männer aus den ersten Reihen die Kirche verlassen hatten und wollte ihnen dann folgen.

Da fiel ihr das kleine Mädchen zwei Reihen hinter ihr auf. Zwischen einer Schar aus Kindern kniete ihre kleine Schwester auf der Holzbank, streckte die Hand nach oben und begann zu winken. Lerche lächelte ihr zu und hob die Hand um ihre Kamilla zu grüßen. Sie sah tatsächlich um einiges älter aus, seit sie ihr Elternhaus verlassen hatte. Die roten Haare trug sie jetzt in zwei ordentlich geflochtenen Zöpfen und ihr Kleid war ausnahmsweise sauber. Aber das Lächeln auf ihrem Gesicht war immer noch dasselbe. Und wahrscheinlich klang ihr Lachen auch immer noch so schön wie früher.

Am liebsten wäre Lerche nach hinten gegangen und hätte ihr kleine Schwester begrüßt, in den Arm genommen und gefragt ob es ihr im Kinderhaus gefiel. Aber die Lehrerinnen trieben die Kinder bereits zusammen und ließen sie sich in einer ordentlichen Zweierreihe aufstellen. Kamilla hüpfte von der Bank und wandte sich von ihr ab.

Lerche konnte sich noch genau daran erinnern wie sie dort hinten gestanden und Ellas Hand gehalten hatte. Sie waren nur ein Jahr auseinander, aber Ella war ihr anfangs viel jünger vorgekommen. Lustig und unglaublich lieb, aber auch zerbrechlich und ängstlich. Es war keine schöne Zeit gewesen. Sie fühlte das leichte Kribbeln auf ihren Fingerknöcheln, dort wo die Schläge sie getroffen hatten, wenn sie wieder etwas falsch gemacht hatte. Sie schüttelte ihren Kopf und vertrieb den Gedanken.

Ella drängte sich durch die Menge an ihre Seite und hakte sich bei ihr unter. Sie trug bereits die weiße Schürze der Krankenschwestern unter ihrem Arm und hatte ihre Haare ordentlich nach oben gesteckt.

„Ich habe Kamilla gesehen. Sie sieht gut aus." sagte Ella. Lerche nickte. „Ich weiß. Sie hat mir gewunken. Ich wäre gern zu ihr hinüber gegangen und hätte sie hochgehoben, so wie früher." „Sie ist doch kein Baby mehr, Lerche. Lass sie selbstständig werden."

Unwillig presste Lerche die Lippen aufeinander, musste aber anerkennen, dass ihre Freundin recht hatte. Gerade als sie sich trennen wollten, Lerche auf dem Weg zur Verwaltung und Ella unterwegs zum Krankenhaus, fiel Lerches Blick auf die junge Frau rechts von ihnen. Sie ging ganz allein, abseits, den Blick zu Boden gerichtet. Ella folgte ihrem Blick und stieß sie dann mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Hör auf sie anzustarren!"

Lerche zuckte zusammen und die Frau neben ihr hob den Kopf. Sie brauchte einen Moment bis sie dem Gesicht einen Namen zuordnen konnte. Barbara. Sie sah völlig anders aus, als Lerche sie in Erinnerung hatte. Blasse Haut, eingefallene Wange, strohiges Haar. Wie ein Geist. Das fröhliche, hübsche Mädchen, das sie gekannt hatte, war einem Geist gewichen, den sie alle meiden mussten. Sofort wandte sie ihren Blick ab und war froh als sie den Menschstrom verlassen konnte.


Barbara zu sehen, hatte eine seltsame Mischung an Gefühlen in Lerche ausgelöst, die sie nun versuchte in Arbeit und Beschäftigung zu ertränken. Mitleid, das auf jeden Fall. Schuld, obwohl sie beinahe komplett sicher war, dass keiner der Steine, die sie getroffen hatten, von ihr geworfen worden war. Aber war sie nicht Ella hinterher gerannt? Hatte sie nicht zumindest einmal geworfen, ohne hinzusehen? Konnte sie diejenige gewesen sein, die Barbara die schlimme Wunde an der Stirn zugefügt hatte? Und selbst wenn, was änderte das?

Mindestens genauso viel Schuld empfand sie, als sie die Erleichterung in ihr spürte. Ein kleiner, egoistischer, dunkler Teil von ihr, war froh, dass es nicht sie war, die dort gesessen hatte. Die jetzt von allen gemieden wurde und wahrscheinlich nie wieder ein richtiger Teil der Gesellschaft sein konnte. All das hätte auch sie treffen können, wenn sie sich einen dummen Fehler erlaubt hätte. Nur ein kleiner Fehler.

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