11. Kapitel

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Die Vorbereitungen für das Erntedankfest waren in vollem Gange, wie jedes Jahr, wenn der September endete. Und Ella war voll in ihrem Element. Lerche hingegen hätte sehr viel lieber in Ruhe ihr Buch gelesen, anstatt in all dem Trubel nach einer Aufgabe zu suchen, die sie übernehmen konnte. Aber hier war sie nun und tat genau das. Feiertage waren ein wichtiges Ereignis in der Zuflucht. Ein Tag an dem sie frei haben würden und den sie tatsächlich einfach nutzen konnten, um Spaß zu haben. Natürlich galten die Regeln auch dann, aber trotzdem waren es die schönsten Tage an die Lerche sich erinnern konnte.

Sie ließ sich auf einer der Holzbänke des Gemeinschaftsraums nieder und sah kurz dabei zu, wie einige Frauen die Kränze aus bunten Herbstblumen flochten. Das hatte sie die letzten zwei Jahre auch gemacht, auch wenn ihr Kränze wahrlich keine Kunstwerke geworden waren. Aber immerhin besser, als alles was sie bisher genäht oder gestrickt hatte. Sie wollte sich gerade einige Ähren greifen und jemand reichte ihr hilfsbereit eine Schere, als Ella sie unterbrach.

„Da bist du ja!"Sie kam auf sie zugestürmt, ein zusammengelegtes Kleidungsstück im Arm. Lerche ahnte bereits, worum es ging.

„Es ist von Anna und ihr ein wenig zu klein. Aber du solltest reinpassen, wenn ich die Schultern etwas ändere."Sie breitete das Kleid über dem Rand des Tisches aus. Lerche beugte sich vor um einen besseren Blick drauf werfen zu können. Ella hatte bereits mit weißer Kreide darauf gezeichnet, dort wo sie Änderungen vornehmen wollte.

„Hier ein bisschen Spitze, das wäre sicher ganz gut. Wenn ich welche finde, nehme ich Gold, das ergänzt sich toll mit dem dunklen Blauton. Es ist nicht gerade eine Herbstfarbe, ich weiß, aber ich denke es wird dir stehen. Rot scheint ohnehin nicht deine Farbe zu sein und Braun ist doch ein wenig zu gewöhnlich. Was meinst du?" Sie beendete ihren Redeschwall und wartete auf Bestätigung von Lerche.

„Ich denke es wird ziemlich gut. Vielen Dank." Sie grinste ihre Freundin an. Auch wenn sie Ellas Leidenschaft fürs Nähen nicht teilte, gefiel ihr die Freude und Energie, die sie bei Ella auslöste. Hanna und das blonde Mädchen neben ihr beugten sich nun ebenfalls hinüber. Ella hatte ihnen sowieso gerade ihre Arbeitsfläche gestohlen.

„Das sieht wirklich toll aus. So ein schöner Stoff..." die Blonde schien begeistert. Lerche kannte sie flüchtig, ihr Zimmer war irgendwo im dritten Stock. Ella kannte sicher auch ihren Namen, aber im Merken solcher Dinge war sie selbst nie gut gewesen.

„Ja, oder?" Ella stieg sofort in das Gespräch ein. „Du solltest mal sehen, was sie sonst so in ihrem Schrank hat. Da ist wirklich nichts halbwegs Festliches dabei. Nur Arbeitssachen." Sie warf Lerche einen amüsierten Blick zu.

„Entschuldige bitte, ich habe eben Prioritäten."

„Aber ziemlich schlechte." merkte Ella an, was Hanna zum Lachen brachte. Ella stimmte mit ein und auch Lerche konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie hatte ja recht.Dann fiel ihr ein, was sie eigentlich noch zu erledigen hatte. Und was sie den Vormittag über vergessen hatte.

Sie hatte gestern nicht geschafft, alle neu angekommenen Vorräte abzuzählen, also hatte sie entschieden es heute zu machen. Eigentlich war Arbeiten am Sonntag nicht gern gesehen, aber sie musste sich ja nicht sehen lassen. Und außerdem würde sie nur schnell ins Verwaltungsgebäude gehen, die restlichen Regale im Keller begutachten und in 30 Minuten wieder hier sein, bevor auffiel, dass sie fehlte.

„Ich muss noch einmal kurz etwas erledigen." raunte sie Ella zu, als die anderen sich wieder ihren Kränzen zuwandten. Die legte die Stirn in Falten und machte einen missbilligenden Eindruck, aber protestierte nicht. „Kannst du dir etwas einfallen lassen, wenn jemand fragt? Es dauert wirklich nicht lange, nur ein wenig liegen gebliebene Arbeit, die ich bis morgen fertig haben sollte." Lerche schlug die Handflächen zusammen und setzte ihren unschuldigsten Gesichtsausdruck auf. Ihre Freundin sah immer noch nicht begeistert aus, nickte aber.

„Du bist die Beste."

Zielsicher tasteten Lerches Finger die Wand entlang, bis sie den Lichtschalter fand. In den letzten Wochen war sie oft genug hier gewesen um den Weg von der Tür zum Lichtschalter zu finden, ohne eine Kerze mitnehmen zu müssen. Sie stieß sich nicht einmal mehr die Füße an einer der Kisten oder die Ellenbogen an der Wand. Sie würde nachher noch helfen die Kränze zu binden, um Ella zufrieden zu stellen. Sobald die Liste der neuen Vorräte fertig war, die sie gestern nicht mehr geschafft hatte zu erfassen.

Lerche klemmte den Bleistift hinter ihr Ohr und durchschritt den immer noch düsteren Raum. Selbst mit der eingeschalteten Lampe wurde es hier nie wirklich hell. Warm war es auch nicht. Glücklicherweise hatte sie daran gedacht und ihren Schal mitgenommen. Sie wickelte ihn nun enger um ihren Hals.

Am Ende des Raumes angekommen, blieb sie vor den Mehlsäcken stehen. Mehl war eines der Lebensmittel, die sie hier nicht herstellen konnten, weil sie keine Mühle besaßen. Glücklicherweise gab es im Draußen noch genügend Vorräte, die man sich holen konnte. Wenn man denn, mutig und stark genug war, nach draußen zu gehen. Das war keine Aufgabe die irgendjemand übernehmen konnte. Stattdessen, waren es in der Regel Lucius und Jonah, die das erledigten. Seltsamerweise hatte sie niemals gesehen, dass Nathaniel oder Samuel die Zuflucht verließen. Vielleicht lag es daran, dass Nathaniel der jüngste der Hohen Herren war. Aber Samuel? Vielleicht vertrauten die anderen ihm nicht so sehr. Aber Lerche verstand nicht, warum. Warum wählte Jonah ihn als Hohen Herr, wenn er ihm nicht trauen konnte? Oder zumindest nicht im selben Maße wie Lucius? Leider war das aber eine Frage, die sie keinesfalls irgendjemandem stellen konnte.

Sie zählte die Säcke sorgfältig durch und fand einen, der bereits ein Loch hatte. Sie beugte sich nach vorn und roch daran. Kein Gestank, kein Schimmel zu erkennen. Trotzdem entschied Lerche, das Risiko nicht einzugehen. Sie hatten genügend Vorräte, auch ohne diesen einen Sack. Sie zückte den Bleistift und markierte den Sack mit einem großen X. Dann zog sie ihn, unter einiger Anstrengung, zu der großen Kiste mit Aussortiertem und warf ihn hinein. Sie gönnte sich einen Moment Pause, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr dann fort. Sie hatte noch eine ganze Reihe Zuckersäcke zum Zählen.

Lerche war bereits am Ende der Reihe angekommen, als sie plötzlich auf etwas trat und nach hinten wegrutschte. Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, bekam das Regal zu fassen, krachte mit dem Oberkörper dagegen und stütze sich daran ab. Das Klemmbrett und der Bleistift fielen mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Sie tastete nach ihrem Arm. Kein Blut zu spüren, so schlimm war es also nicht. Vorsichtig rappelte sie sich auf und ärgerte sich über ihre eigene Ungeschicklichkeit.

Wahrscheinlich war einfach nur ein weiterer Sack ausgelaufen und sie hatte nicht richtig hingesehen. Lerche war gar nicht begeistert von der Aussicht noch so einen Sack zur Kiste schleppen zu dürfen.

Auf dem Boden kniend, tastete sie nach dem Bleistift. Verdammt, warum war es hier auch so dunkel? Sie wusste natürlich warum, damit nichts verdarb, aber jetzt gerade konnte sie das nicht gebrauchen. Der Boden war eiskalt und sie begann durch den Stoff ihres Kleides zu frösteln. Dann fand sie etwas. Etwas glattes. Es war definitiv nicht der Bleistift. Es fühlte sich an wie ein sehr glattes Papier. Vielleicht das worauf sie ausgerutscht war? Lerche hob es vorsichtig auf, um es nicht zu zerreißen. Dann ging sie damit aus der Regalreihe heraus ins Licht.

Erst hatte sie gedacht, es wäre eine Liste, vielleicht von Michael oder Lucas hier vergessen. Aber das war es nicht; es war etwas anderes. Und sie konnte nicht deuten, was. Ihre Neugier war geweckt.

Der Zettel beinhaltete eine genaue Aufzählung der neuen Zuckersäcke. 32, die Zahl stimmte. Dahinter befand sich noch eine Zahl mit zwei Kommastellen und einem Symbol, dass sie aber nicht mehr erkennen konnte, der Zettel war zu verblast und zerknittert. Das war merkwürdig. Aber noch viel merkwürdiger war, dass niemand diesen Zettel geschrieben hatte. Er war gedruckt. Wie ein Buch.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe, während sie nachdachte. Ein Tick, den sie schon als Kind gehabt hatte. Der Zettel war zu klein, um eine Buchseite zu sein und er sah nicht aus, als hätte ihn jemand aus einem Buch herausgetrennt. Das Papier schien auch anders zu sein, als alle Bücher, die sie bis jetzt in der Hand gehabt hatte. Aber in der Zuflucht konnte man nichts drucken. Er musste also aus dem Draußen sein. Es gab keine Menschen im Draußen, die ihn hätten drucken können. Vielleicht hätte es einer der Herren im Draußen tun können, aber warum? Das erschien ihr unnötige Arbeit. Oder er war alt. Aber war es dann nicht ein zu großer Zufall, dass er bei den Zuckersäcken lag und ihre Menge wiedergab?

Lerche wusste, dieses Stück Papier war nicht für sie bestimmt. Dass sie es hätte zu jemandem bringen müssen, zu Jonah, zu Lucius oder zumindest zu Mathilda. Aber dieses Rätsel faszinierte sie. Sie strich über das Papier und ließ es dann in ihre Tasche gleiten.

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