12. Kapitel

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Das neue Kleid war so schön geworden, wie Ella ihr wortreich versprochen hatte. Der Stoff fühlte sich weich und warm auf ihrer Haut an, nicht einmal die neu hinzugefügten Nähte kratzten. Die Schultern spannten nicht, der Saum ging ihr genau bis zu den Knöcheln. Es war perfekt für sie, als hätte Ella es komplett neu geschaffen. Lerche rückte den Kranz aus Ähren und getrockneten Blüten in ihren Haaren zurecht und sah zu, wie nach und nach alle Feuer entzündet wurden. Sie hatte vorgegeben auf die Kürbisbrötchen aufzupassen, die Ella ihnen vorhin geholt hatte. Diese kleinen, orangenen Brötchen waren immer sehr begehrt und wenn man sich nicht beeilte, bekam man keine mehr.

Aber eigentlich wollte sie auf gar nichts aufpassen. Am Rand zu sitzen und zuzusehen, wie die Menschen zwischen den Feuerstellen hindurch wuselten, war einfach ihre Art Erntedank zu genießen. Sie liebte den Geruch nach frischgebackenem der sich in der Luft mit dem Ruß der Feuer mischte. Und sie sah gern zu, wie die Funken über die Lichtung stiebten.

Sie erkannte Magnus und Niklas in der Gruppe Männer, die noch mehr Feuerholz brachten. Magnus sah zu ihr hinüber, grinste und hob die Hand zum Gruß. Sie erwiderte die Geste lächelnd und entschied dann nicht länger auf Ella zu warten, sondern schon ein Stück Brötchen zu essen, solange es noch warm war. Der Geschmack von Kürbis und Nüssen breitete sich in ihrem Mund aus. Sie kaute genüsslich und beobachtete wie die Tische aufgestellt wurden.

Ihr Blick glitt weiter über das abgemähte Feld und sie erwischte sich dabei, wie sie nicht nur nach Ella Ausschau hielt, sondern auch nach Jonah. Er war allerdings kaum zu übersehen. Die Gruppe Menschen, die sich um ihn scharrten, machte das beinahe unmöglich. Darunter erkannte sie Marisa, in ihrem weinroten Kleid, einen wunderschönen, wahrscheinlich selbstgeflochtenen Kranz auf dem Kopf. Wäre Marisa ihre Freundin gewesen, wahrscheinlich hätte Lerche ihr gesagt, dass sie aufgeben sollte. Jonah hinterherzulaufen war ein aussichtsloses Unterfangen und sie machte sich nur lächerlich, so auffällig wie sie es tat. Die Gründe, aus denen Marisa glaubte mehr Chancen zu haben, als all die anderen Frauen, waren ihr sowieso nicht klar. Aber vielleicht glaubte sie das gar nicht. Vielleicht wollte sie nur einfach nicht aufgeben und an dem festhalten, was sie sich wünschte. Und sie war hübsch, das musste Lerche ihr lassen.

Lucius und Samuel waren eifrig beschäftigt, alle Tische rund um das Feuer anzuordnen. Lerche hatte den Eindruck, sie würden dieses Jahr besonders Wert auf Perfektion legen. Normalerweise scherte zumindest Lucius sicher eher weniger um solche Nebensächlichkeiten. Vielleicht hatte es etwas zu bedeuten?

Das Brötchen in ihrer Hand wurde langsam kalt und von Ella war immer noch nichts zu sehen. Also stand sie auf und stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund. Allmählich wurde es auch merklich kühler und sie ärgerte sich, keinen Mantel oder zumindest Pullover mitgenommen zu haben. Vielleicht sollte sie noch einmal zurück gehen und einen holen? Aber erst würde sie Ella ihr Brötchen bringen.

Sie bahnte sich einen Weg durch die schnatternden Menschen, stoppte kurz um sich von Hanna umarmen und ein schönes Erntedankfest wünschen zu lassen und erreichte dann die Tische bei den Feuerstellen. Ella war vertieft in ein Gespräch mit einigen anderen Mädchen. Sie sah ein wenig schuldbewusst aus, als Lerche sich näherte. Allerdings kam sie nicht dazu ein Wort mit ihr zu wechseln, denn jemand rief sehr laut und sehr deutlich ihren Namen. Jemand, dessen Stimme sie unter tausenden erkannt hätte. Jonah.

Er schien in guter Stimmung zu sein, sogar noch ein wenig herzlicher als normalerweise. Er breitete die Arme aus, grinste sie an und die Leute um ihn herum machten ihnen Platz.

„Meine Lieblings-Sekretärin!"

Lerche konnte das Lächeln nicht unterdrücken, dass sich auf ihre Lippen schlich. Sie warf noch einen kurzen Blick zu Ella, die sie mit großen Augen ansah, aber dann mit der Hand wedelte. Die Geste für Na, geh schon!

SingvögelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt