Prolog

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Es ist Mittag, als das Dröhnen eines Motors ihr Kommen ankündigt. Die Sonne steht hoch im Zenit und brennt auf unsere Kolonie herunter. Mutter jätet in ihrem kleinen Garten das Kräuterbeet. Kräuter, für die sie manchmal Mehl, Eier oder Reis eintauscht. Sie hat Geschick im Umgang mit Pflanzen. In der ganzen Kolonie gibt es niemanden sonst, der so saftig grüne Minze, Petersilie oder Kresse besitzt. Bald sind auch die Kerne der Sonnenblumen wieder soweit, die eine Art Zaun zu den Nachbarhütten bilden. Und an den Johannisbeersträuchern reifen die roten und schwarzen Beeren schon. Ich lecke mir über die Lippen und stelle mir den Geschmack von Mutters Marmelade auf meiner Zunge vor; süß, fruchtig und schmackhaft wie der Sommer selbst. Manchmal träume ich, unser Garten wäre so groß wie fünf Hütten, dann könnten wir den Sommer über genug anpflanzen, um auch im Winter damit handeln zu können. Aber das Stückchen Garten, das jede Hütte umgibt, ist gerade einmal zwei Schritte breit. Nicht genug Platz für noch mehr Pflanzen und Kräuter.

Die Hupe reißt mich aus meinen Gedanken. Ich greife nach Kaylas Hand und laufe mit meiner Schwester im Schlepptau zum Versammlungsplatz. Der vom Sommerregen aufgeweichte Boden drückt sich zwischen meine Fußzehen und macht schmatzende Geräusche. Ich liebe dieses Gefühl. Der Matsch ist warm und geschmeidig, und umspielt meine Sohlen. Kayla kichert und springt von Pfütze zu Pfütze. Auch sie ist Barfuß. Im Sommer tragen die meisten von uns keine Schuhe, um sie für den Winter zu schonen.

Wir schlängeln uns zwischen den eng nebeneinanderstehenden Holzhütten hindurch, die in sieben nach außen hin immer größer werdenden Kreisen, um den Versammlungsplatz angeordnet sind. Eine Hütte sieht wie die andere aus. Nur anhand der Schäden kann man sie unterscheiden; kaputte Türen, herabhängende Fensterläden, Löcher in den Wänden, ein undichtes Dach. Manches Heim hat von seinen Bewohnern etwas Individuelles bekommen; einen Blumentopf neben der Tür, ein Gemälde an der Wand, dessen Farben längst verblasst sind, den Namen der Familie über der Eingangstür. Doch für alle Wohnhütten gilt dasselbe; sie befinden sich in einem jämmerlichen Zustand, denn es fehlt uns an Werkzeugen und Materialien, um sie instand halten zu können. Besonders groß sind sie auch nicht. Sie bieten kaum genug Platz für zwei Betten. Mutter kocht auf dem Herd, der uns mit seinem Feuer im Sommer aus der Hütte vertreibt und im Winter wärmt. Ein paar von ihnen sind mittlerweile unbewohnbar, ihre Dächer eingestürzt oder abgebrannt. Sie dienen den wenigen Hühnern der Kolonie als Heim oder den Einwohnern als Feuerholz. An die Wohnheime schließen sich im Norden die Felder an und im Süden ein kleines Stück Wald in das sich schon lange kein Wild mehr verirrt hat.

Kolonisten, die Hühner besitzen gelten als wohlhabend. Ihre Besitzer stehen unter dem Schutz des Oberaufsehers. Eier sind ein wertvolles Tauschgut. Wie auch alles, was man von den Lieferungen, die in unregelmäßigen Abständen die Kolonie erreichen, bekommen kann.

Man muss zuerst auf dem Versammlungslatz sein, um gute Nahrungsmittel und vielleicht Kleidung, zu ergattern. Die Laster kommen immer seltener. Nahrung, Garderobe und auch sonst alles, was man zum Leben nötig hat, wird knapp. Jeder Tag ist ein Kampf um das eigene Überleben.

Wir schaffen es noch vor allen anderen. Ich bin erleichtert und stelle mich mit Kayla so, dass wir die hintere Öffnung des Gefährts im Blick haben und wir von den Leibsklaven gut gesehen werden, wenn sie die ersten Bewohner zu den Waren rufen. Das Ungetüm steht in der Mitte der ebenen Fläche. Viele Füße haben die Erde im Laufe der Jahre festgetreten. So entstand ein Platz auf dem wir nicht nur zusammengetrieben werden, wenn unsere Besatzer kommen, sondern auch, wenn die Aufseher jemanden bestrafen müssen oder wir das alljährliche Sommerfest feiern.

Die Ladefläche des Lasters steht offen. Ich sehe in das gähnende Dunkel und kann deutlich erkennen, dass es nichts als Leere gibt. Hoffnungslos lasse ich die Schultern nach unten sacken. Wir werden weiter mit dem Wenigen zurechtkommen müssen, das Mutters Garten für uns bereithält. Es wird keine Säcke mit Reis, Mehl oder Hafer geben.

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