Kapitel 2

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Die Hupe ertönt, als ich gerade die letzten getrockneten Kräuter in den Topf mit heißem Wasser werfe. Ich gebe ein paar Stückchen von dem Trockenfleisch bei, das mir der Oberaufseher am Morgen gegeben hat. Wenigstens wird es heute etwas mehr als nur Kräuter in unserer Suppe geben. Vaters Haarsträhne hängt jetzt von der Decke über unserem Bett. Ich habe das Kästchen gegen zwei Eier eingetauscht. Die schlage ich auch noch schnell in die Suppe. Ich selber werde nur wenig für mich nehmen. Diese Suppe soll für Kayla sein, sie soll meiner Schwester wieder etwas Farbe in ihr hübsches Gesicht zaubern. Ich weiß, dass sie unter Hungerkrämpfen leidet. Ich habe gesehen, wie sie immer wieder heimlich eine Hand auf ihren Bauch gelegt und das Gesicht verzogen hat. Ich selbst leide auch unter Krämpfen. Aber mir macht es weniger aus. Doch Kayla befindet sich noch im Wachstum. Sie braucht einfach mehr Nährstoffe für ihren Körper als ich.

Kayla liegt unter Vaters Haarsträhne und pustet sie an, sodass sie sich hin und her wiegt. Ich nehme den Topf vom Ofen, ziehe sie auf die Füße und drücke ihr das Fleisch in die Hand. Das Essen müssen wir auf später verschieben. Sehr schade, denn die Suppe riecht wirklich köstlich. Im Laufe der letzten Monate habe ich dazugelernt. Meine ersten Kochversuche waren grauenvoll, um nicht zu sagen, ungenießbar. Aber Kayla hat alles ohne Murren gegessen. Vielleicht war es gut, dass sie anfangs so sehr unter Schock gestanden hat, weil Mutter nicht mehr bei uns war, dass sie gar nicht viel von dem mitbekommen hat, was um sie herum geschehen ist – auch nicht die schrecklich schmeckende Marmelade oder das schwarz verbrannte Fladenbrot.

Nur für alle Fälle richte ich ein paar Worte an meine Schwester: »Wenn sie mich mitnehmen, iss jeden Tag ein kleines Stück.« Ich habe kaum Hoffnung, dass sie dieses Mal wegen Nahrungsmitteln oder Medikamenten gekommen sind. Ich breche etwas von einem der Trockenfleischstreifen ab, das so groß ist wie Kaylas Daumen, zeige es ihr und werfe es in die Suppe. »So, nicht mehr, dann kommst du ein paar Tage hin. Es wird der Suppe zusätzlich Geschmack geben.«

Kayla schaut mich schockiert an, wirft sich in meine Arme und weint. »Lass mich nicht alleine. Ich will nicht allein zurückbleiben.« Ich bin überrascht von diesem plötzlichen Gefühlsausbruch. Meine Schwester ist still geworden, seit Mutter weg ist. Sie spricht kaum noch, sitzt die meiste Zeit auf dem Bett und starrt vor sich hin. Früher ist sie ein fröhliches Kind gewesen; immer in Bewegung, ständig kichernd, ununterbrochen schwatzend. Sie hat es geliebt, Mutter im Garten zu helfen und mit mir zu streiten. Aber in den letzten Monaten hat sie sich verändert. Sie ist ernst geworden, depressiv und erschreckend erwachsen. Ständig versucht sie mir zu helfen. Sie hat sich sogar das Nähen zeigen lassen von unserer Nachbarin, damit sie die Arbeiten erledigen kann, die ich nicht fertigbringe. Seit ein paar Tagen spielt sie nicht einmal mehr mit ihren Freunden, sondern hilft mir lieber bei der Nahrungsbeschaffung. Ich mache mir Sorgen um sie. Es darf einfach nicht geschehen, dass sie mich auch noch mitnehmen. Das würde Kayla nicht verkraften. Ihr Herz ist jetzt schon zerbrochen.

»Das wird nicht passieren. Ich verspreche es. Wir werden nicht getrennt«, versuche ich sie zu beruhigen, obwohl ich weiß, dass ich nichts dagegen machen könnte, wenn sie mich auswählen. Dann muss Kayla sich allein durchkämpfen. Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter bei der Vorstellung. »Wir müssen los.«

Kayla wischt sich die Tränen von den Wangen, fährt mit dem Arm über ihre winzige Stupsnase und steckt das Trockenfleisch in die Tasche ihres Kleides.

Auf dem Versammlungsplatz ist es schon voll. Der Übersetzer steht auf der Ladefläche des Monstrums. Es ist derselbe Laster, der auch Mutter geholt hat. Das erkenne ich an der Beule, die sich vorne in die bullige Schnauze des Ungetüms drückt. Es sieht aus als wäre er aus einem Zweikampf nur knapp entkommen. Auch der Übersetzer ist derselbe. Bei den Tesaren kann ich das nicht sagen. Die sehen alle gleich aus – zumindest für mich. Aber ich kann ohnehin nur das Auto sehen, da Kayla und ich irgendwo in der Mitte der Menschenansammlung eingepfercht sind und die Tesare sich immer um uns herum platzieren.

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