Kapitel 6

120 13 0
                                    


Eigentlich sollte ich jetzt zur Arbeit in die Mine gehen. Bis zur Mittagspause ist es noch eine Weile hin. Aber ich kann nicht. Mir steckt die Furcht noch immer in den Gliedern. Dem eigenen Tod entgangen zu sein, ist nicht so schön, wie man denkt, wenn man weiß, dass der einzige Mensch den man noch hat, der Mensch, den man über alles auf der Welt liebt, sterben wird. Unweigerlich.

Ich weiß, Kayla hat keine Chance, aber das bedeutet nicht, dass wir aufgeben werden. Was auch immer die Tesare mit uns gemacht haben, es war nur wieder eins ihrer perfiden Experimente, von denen wir auch in Kolonie D gehört haben. Ich muss einen Weg finden, sie in Sicherheit zu bringen. Ich werde dafür sorgen, dass sie als freier Mensch sterben kann. Weil Mutter es so gewollt hätte.

Ich denke an den Tag, als Vater starb. Mutter hatte sich über seine Leiche gebeugt. Tränen rannen wie Wasserfälle über ihre Wangen. Der Kampf gegen Vaters Krankheit hatte an ihr gezerrt, ihr Haar hing strähnig ihn ihr Gesicht. Eigentlich trug sie es immer in einem Zopf, um Vater zu gefallen. Sie sah müde aus. Gleich würde der Oberaufseher mit einigen Helfern kommen und sie würden Vater mitnehmen und draußen an der Grenze verbrennen.

Ich stand neben ihr, hielt Kaylas Hand, die leise schluchzte und fassungslos in Vaters Gesicht schaute. Mutter hielt seine Hand und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Dann hob sie den Kopf, sah von mir zu Kayla, dann wieder zu mir. »Wenn wir frei gewesen wären, hätte er es schaffen können. Früher hätte er überlebt.« Dann senkte sie den Blick wieder auf Vater und sagte: »Mein einziger Wunsch ist, dass ihr irgendwann frei sein könnt.«

Damals hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht. Ich kannte ja nichts anderes, als Kolonie D. Natürlich haben wir alle irgendwann schon überlegt, wie es sein würde ohne die Tesare. Aber niemand hat ernsthaft daran gedacht, Kolonie D zu verlassen. Zumindest hat keiner darüber geredet.

Jetzt wird mir erstmals klar, dass es doch so gewesen sein muss, dass die Erwachsenen doch über ein Leben außerhalb der Kolonien nachgedacht haben. Warum sonst hätte meine Mutter das sagen sollen?

Mit zielstrebigen Schritten gehe ich auf das kleine Toilettenhäuschen zu. Einer der Tesare schaut mich an, rührt sich aber nicht von seinem Posten. Ich gehe um die Hütte herum und lasse mich gegen die Rückwand sinken. Der Boden ist gefroren und die Kälte dringt sofort durch meine Kleidung, aber es macht mir nichts aus. Ich ziehe die Beine an und verschränke die Arme auf den Knien.

Direkt hinter den Hütten, nur zwei Schritte von mir entfernt steigt der steile Abhang empor, der unser Lager umschließt. Er ist ganz bedeckt von Laub und einer dünnen Schicht Schnee. Oben stehen Bäume bis an den Rand gedrängt. Ein paar sind so nahe am Abgrund gewachsen, dass sie sich gefährlich neigen. Es sieht aus, als würden sie jeden Augenblick hinunterstürzen. Ich überlege, ob so ein groß gewachsener Baum es schaffen könnte, den Lichtzaun zu durchbrechen. Wie viel Kraft bräuchte es, um den Zaun zu zerstören? Kann er überhaupt ausgeschaltet werden?

Wenn der Zaun nicht wäre, könnte ich Kayla nehmen, mit ihr den Hang hinaufsteigen und durch den Wald fliehen. Die Bäume würden uns vor den Speeren schützen, weil die Tesare nicht richtig zielen könnten. Wenn der Zaun nicht wäre. Ich drücke meine Finger in die gefrorene Erde, bis der Schmerz einsetzt.

Vielleicht sollte ich alles einfach passieren lassen. Kayla geht es gut hier. Sie hätte noch einen Tag, oder zwei. Sie fängt gerade an, ihr neues Leben zu genießen. Der Speer ist ein schneller Tod. »Er hätte überleben können«, hat Mutter gesagt. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber was, wenn Kayla dort draußen wirklich gesund werden könnte? Mutter hat so sicher geklungen.

Meine Finger ertasten unter dem Laub einen Stein, etwa so groß wie ein Vogelei. Ich nehme ihn, stehe auf und werfe. Er fliegt den ganzen Weg den Abhang hinauf und landet irgendwo dort oben, wo ich ihn nicht mehr sehen kann. Ich schnaube. Also ist der Zaun dort oben. Das erweitert unseren Bewegungsradius um eine unnutzbare Zone, denke ich bitter und lehne mich gegen das Toilettenhäuschen. Es wundert mich, dass noch keiner der Tesare nach mir gesehen hat. Aber wohin soll ich auch verschwunden sein?

TesarenlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt