Kapitel 1

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Sieben Vollmonde ist es jetzt her seit Mutter geholt wurde. Sieben Monate, in denen ich uns nur geradeso am Leben gehalten habe. Kayla, meine kleine Schwester, sieht schlecht aus. Ihre Wangenknochen sind hervorgetreten, unter ihren moosgrünen Augen sind die Schatten noch dunkler geworden. Mit der Schere kann ich nicht so gut umgehen wie Mutter, weswegen Kaylas rötliche Haare schartig und fransig in alle Richtungen abstehen. Ihr Leinenhemd ist zerrissen, ihre Hose an den Knien durchgescheuert.

Mutters Garten hat uns gut über den Sommer gebracht, aber im Winter fiel es uns schon immer schwer, genug zum Tauschen zu finden. Bisher war das auch nicht so nötig, wie in diesem Winter. Die Tesare haben so gut wie keine Nahrungsmittel geliefert. Das Lager des Oberaufsehers ist fast leer. Es ist nichts da, das er uns geben könnte. Nichts, womit er den Bewohnern von Kolonie D helfen könnte. Noch nie war die Stimmung innerhalb der Kolonie so schlecht. Noch nie standen wir uns feindlich gesinnt gegenüber. Aber der Hunger treibt uns an, und es ist die Tage gefährlich, anderen zu begegnen. Besonders seit erste Kolonisten am Hunger gestorben sind. Innerhalb unserer kleinen Welt geht das Gerücht um, dass die Außerirdischen das Interesse an uns verloren haben. Vielleicht brauchen sie uns nicht mehr. Das hätte fatale Folgen, weil niemand von uns die Kolonie verlassen kann. Wir sind hier eingesperrt, auf das Wenige, das die Tesare uns bereit sind zu geben, angewiesen.

Ich ziehe Kayla noch näher an meinen Körper heran, weil ihre Lippen vor Kälte beben. Das Feuer im kleinen Ofen schafft es nicht den Frost, der durch die Lücken zwischen den Holzbrettern ins Innere der Hütte dringt, zu vertreiben. Draußen tobt der Wind und bläst Schneeflocken durch die Ritzen. Sie tanzen im Schein der alten Öllampe und sind geschmolzen, bevor sie den Dielenboden erreichen. Es kann unmöglich noch lange dauern, bis der Winter vorbei ist. Er muss einfach bald vorbei sein. Im Frühling kehren die Vögel zurück. In ihren Nestern werden Eier liegen. In Mutters Beeten werden Kräuter und Beeren wachsen. Aber jetzt im Winter, wo soll ich zu Essen finden für Kayla?

Aus meiner Hosentasche ziehe ich einen Haferkeks. Ich lege ihn ihr in die kleine Hand. Karla hat ihn mir gegeben, im Tausch für Mutters Sommerkleid. Es wäre mehr wert gewesen, wenn ich es fertiggebracht hätte, das Loch auf der Schulter zu flicken. Aber immer wenn Mutter mir das Nähen beibringen wollte, habe ich abgewinkt und gesagt, dass ich noch jede Menge Zeit haben würde, um es zu lernen. Mutter hat dann immer gelächelt und gemurmelt: »Du denkst nie an morgen, Brenna.«

Und ich habe gesagt: »Doch, morgen ist auch noch ein Tag.«

Es gab kein Morgen mehr. Da war so viel, was Mutter mir hätte beibringen müssen; wie versorge ich ihren Garten? Wie koche ich eine nahrhafte Suppe aus dem wenigen, was die Tesare uns zur Verfügung stellen? Wie kümmere ich mich gut um meine Schwester?

Wenn ich das kleine knochige Bündel in meinen Armen spüre, treibt es mir die Tränen in die Augen. Wenn ich keinen Weg finde, uns Essen zu besorgen, wird Kayla den Winter nicht überleben. Sie wäre nicht das erste Kind, das in diesen Tagen stirbt. Der kleine Sohn der Feldarbeiterin Mara ist vor fünf Tagen gegangen. Ich habe gesehen, wie sie ihn hinaus an die Grenze getragen haben. Dann haben sie ein Feuer gemacht. Der Gestank von brennendem Fleisch steckt mir noch immer in der Nase. Der Rauch hat sich über die Kolonie gelegt, wie eine unheilvolle schwarze Decke.

Niemand hier weiß, warum sie uns keine Nahrung mehr bringen. Warum sie mehr als vierhundert Menschen hungern lassen. Vor drei Monaten kam die letzte Lieferung mit Mehl, Reis und einigen Medikamenten. Restbestände aus einer Welt, die ich nur aus Geschichten kenne. Eine Welt, die seit fünfundsiebzig Jahren nicht mehr existiert. Was, wenn die Tesare gar nicht mehr kommen? Ich mag nicht daran denken, was das bedeuten würde. Eingesperrt innerhalb der Lichtgrenzen, keine Möglichkeit, zu entkommen.

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