"Charlie steh auf!", kräht mir eine Stimme so laut in's Ohr, dass ich garantiert einen Hörschaden davon tragen werde. Passend zu seinen Worten zieht der kleine Nervbold auch noch an meiner Decke, die ich verzweifelt am anderen Ende fest umklammere. In meinem Zimmer ist es zwar nicht kalt, aber jeder kennt ja wohl den Moment des Aufstehens, wenn man die Decke zur Seite schlägt und sich beim aufsetzen fühlt als sei man in Alaska gelandet.
"Los komm endlich! Der Weihnachtsmann war da!"
Grummelnd kneife ich die Augen noch fester zusammen und während ich mit der einen Hand weiterhin meine Decke festhalte, greife ich mit der anderen Hand blindlings nach dem kleinen Schreihals neben meinem Bett. Mit einem kräftigen Ruck ziehe ich an seinem - ich nehme dem Gefühl nach an - Oberarm und schwupps landet der achtjährige Zwerg in meinem Bett. Trotz des regen Protestes brumme ich: "Psst. Lass uns noch eine Runde schlafen."
Leider geht mein Plan von einer Kuschelstunde am Morgen nicht auf, denn mein Bruder beginnt unter der Decke sich hin und her zuwälzen, wobei er mit seinen Füßen meine Beine bei so ungefähr jeder Bewegung trifft. Als würde mich das nicht schon wach genug machen, kräht er weiterhin: "Schlafen können wir wenn wir Tod sind. Der Weihnachtsmann war da. Los komm schon Charlie!"
Wäre es nicht so früh am Morgen würde ich sicherlich über seine Worte grinsen. Er hat sie wohl so oft bei Hannah und mir gehört, dass er sie mittlerweile kopiert hat. Aber was haben wir auch anderes erwartet, immerhin wird er doch in einem halben Jahr bereits neun Jahre alt. Kaum zu glauben wie schnell die Zeit vergeht. Es kommt mir wie gestern vor, dass er gerade erst geboren wurde.
"Los jetzt!"
Seufzend quäle ich mich tatsächlich aus dem Bett und suche halb blind mit den nackten Füßen auf dem Teppich nach meinen flauschigen Hausschuhen. Meinem kleinen Bruder scheint es jedoch heute Morgen überhaupt nicht schnell genug zu gehen, denn er bückt sich und greift nach besagten Hausschuhen, die er mir über die Füße schiebt. Dann greift er erneut nach meiner Hand und ich kann gerade noch so nach meinem Bademantel greifen, da stehe ich auch schon im Flur.
Mama kommt gerade aus dem Badezimmer, die Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt und den schlanken Oberkörper durch einen schwarzen Rollkragenpullover betont. Ihre dezent geschminkten Lippen verziehen sich zu einem sanften Lächeln als sie meinen Bruder und mich so Hand in Hand erblickt. Ihre Augen, die dasselbe teddybärbraun haben wie die meinen, funkeln dabei wie Edelsteine und ich kann sehen, wie glücklich sie unser Anblick macht. Ich habe meine Mutter lange nicht mehr so fröhlich gesehen. Vor Moritz schaffen Papa und sie es zwar ihre emotionalen Launen zu verbergen, aber mir entgehen sie nicht. Obwohl ich versuche wegzusehen und vor allem wegzuhören wenn sie im Wohnbereich einmal wieder ihre Streitereien haben. Ich wünschte mein kleiner Bruder würde in einer ebenso glücklichen Familie aufwachsen können wie meine Zwillingsschwester und ich. Doch das wird ihm nicht möglich sein. Ich werde froh sein können, wenn sich das Verhältnis zwischen unseren Eltern in den nächsten zehn Jahren nicht noch weiter verschlimmert. Zumindest bis mein Bruder volljährig ist und damit eine reelle Chance des Auszuges besteht.
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Granatapfel [ II - 2019 ]
Teen Fiction"Na schön kleine Lady. Ich habe keinerlei Interesse wie ein Schoßhündchen an deinem Rockzipfel zu hängen. Führ mich herum und vergiss dann einfach, dass es mich gibt. Ich brauche keinen Babysitter. Und erwarte bloß nicht, dass ich dir vor Dankbarkei...