15. Kapitel

5.6K 278 20
                                    

         Nervös glitt mein Blick immer wieder aus dem Fenster. Meine Lieblingsserie lief im Fernsehen, doch ich beachtete sie nicht wirklich. Stattdessen sah ich immer wieder aus dem Fenster und hielt nach Lorcan Ausschau, doch er war nirgends zu entdecken. Mittlerweile war es kurz nach 17:00 Uhr und somit war er schon ganze acht Stunden weg. Einen ganzen Arbeitstag sozusagen. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich hatte das Gefühl, jeden Moment vor Nervosität zu platzen.
               Auf der einen Seite war es wirklich ungewohnt, so darauf zu reagieren. So darauf zu reagieren, nur weil er noch nicht da war, doch ich machte mir große Sorgen. Er war nicht da und somit hatte ich das Gefühl, jeden Moment an Nervosität zu ersticken. Toran und Scarlett waren relativ ruhig. Vermutlich kannten sie Lorcan besser und machten sich deswegen keine Sorgen. Immer wenn ich den Blick vom Fenster abwandte, richtete ich ihn stattdessen auf die Uhr über dem Fernseher. Es war gerade mal eine Minute vergangen, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
             Ich wollte, dass er durch diese Tür kam. Jetzt. Ich zählte die Sekunden, doch er kam einfach nicht. Draußen hörte ich auch keine Schritte oder ein Auto. Ich hörte nur die Bewohner des Waldes. Ganz hibbelig tippte ich mit dem Finger auf die Tischkante des kleinen Tisches, der vor dem Sofa stand, während Toran und Scarlett zusammen auf einem Sessel saßen, sie auf seinem Schoß. Ihr Blick glitt zu mir und Scarlett musterte mich aus ihren braunen Augen.
              »Es wird schon alles gut gehen. Lorcan ist immer vorsichtig. Mach dir keine Gedanken. Niemand kann ihn davon abhalten zu dir zurückzukommen, glaub mir«, versuchte sie mich zu beruhigen, doch ihre Worte gingen bei mir einfach unter. Ich wollte und konnte das nicht glauben. Natürlich wusste ich, dass Lorcan vorsichtig war, doch ich wusste auch, dass über 400 Leute nach mir suchten. Das war kein Spaß. Lorcan könnte bereits gefangen sein. Das Herz schlug mir bei diesem Gedanken bis zum Hals. Es war unangenehm.
               Sehr unangenehm. Ich wollte das nicht. Wirklich nicht. Ich wollte, dass er jetzt einfach durch diese Tür kam. Doch es verging eine weitere halbe Stunde, in der er nicht kam. Erst dann hörte ich Schritte. Bevor die beiden aufstehen konnte, war ich mit einem Satz von der Couch gesprungen und rannte auf die Tür zu. So schnell ich konnte riss ich sie auf, nur um Hayes und Lucie in die verdatterten Gesichter zu sehen. Enttäuschung flutete meinen Körper und verdrängte die Euphorie, die ich für einen Moment verspürt hatte.
             »Oh... Hey«, murmelte ich und trat zur Seite, damit sie eintreten konnten. Wo sie so lange gewesen waren, wusste ich nicht, aber den Tüten nach zu urteilen, waren sie noch Einkaufen gewesen und shoppen. »Hast du jemand anderen erwartet, Nera?«, fragte Hayes mich und grinste schief. Er schien zu wissen, wen ich erwartet hatte. Röte schoss mir in die Wangen und ich wandte den Blick ab. Als ich das tat, erkannte ich, wie eine Gestalt aus dem Wald trat. Eine große Gestalt. Sehr groß und muskulös. Ich wusste nicht, was mit mir passierte, als ich realisierte, wer da aus dem Wald trat.
             Es war wie ein Kurzschluss. Ich schob Hayes einfach beiseite. Woher ich die Kraft in diesem Moment genommen hatte, wusste ich nicht. Dann rannte ich hinaus, ohne dabei Schuhe anzuziehen. Die kleinen Äste und Blätter waren bei jedem Schritt spürbar, doch es war mir egal. Meine Füße trugen mich in einer rasenden Geschwindigkeit auf Lorcan zu. Dieser hob überrascht eine Braue, als ich auf ihn zu rannte. Als ich ihn erreichte, schlang ich einfach meine Arme um ihn und presste mich fest an.
            

            Überrascht wich er einen Schritt zurück, legte aber geistesgegenwertig seine Arme um mich. Seine starken Arme umgaben mich ein Schutzschild, während ich mich an seine breite, harte Brust drückte. Ich atmete seinen Duft ein, vergewisserte mich, dass er es war. Dass er atmete. Sein warmer Atem streifte meinen Nacken, als er nun auch mich näher an sich drückte. So nahe, dass kein Blatt mehr zwischen uns passte. »Das ist eine nette Begrüßung«, murmelte er und strich mir sanft durch mein Haar.
            Jedem anderen hätte ich nun auf die Finger geschlagen, doch bei ihm war das anders. Seine Berührung war sanft und fühlte sich richtig an. Fühlte sich gut an. Ich genoss es richtig. Genoss, wie er mich in seinen Armen hielt und durch meine Haare strich. »Ich... ich hatte Angst um dich«, murmelte ich in seine Brust, was ihn leise lachen ließ. Sein Brustkorb vibrierte an meiner linken Wange. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu dir zurückkomme«, hauchte er leise.
             Da war so viel Wärme in seiner Stimme, dass mir ganz heiß wurde ein wohliges Kribbeln durch meinen Bauch ging. »Aber du... du hast nicht gesagt, wann du zurückkommst«, hielt ich dagegen. Für einen Moment war er ganz still, dann drückte er mich einfach noch fester an sich und küsste meinen Kopf. Das schien seine Antwort zu sein. Ich genoss diesen Moment der Zweisamkeit. Jetzt, wo er seine Arme um mich geschlungen hatte, schien er mich vor der Außenwelt abzuschirmen. Es schien nur uns zu geben. Für immer.
             Ich atmete seinen Duft nach Wald und Erde ein, der noch eine Mischung von Aftershave hatte, dass aber relativ verblasst war. In seiner Gegenwart schien alles auf einmal möglich zu sein. Wenn er mich so in seinen Armen hielt, wichen alle Sorgen für einen Moment von mir. Doch auch seine Umarmung konnte die Realität nicht für immer fernhalten. Nach und nach nahm ich die Gespräche und Blicke der anderen wieder wahr.
           Blicke schienen sich in meinen Rücken zu brennen. Jedenfalls in den Teil, den Lorcan mit seinen Armen nicht abdecken konnte. Ab und an hörte ich auch Getuschel über diesen Moment. Ich hatte nicht mitbekommen, wie die anderen langsam auch alle eingetroffen waren. Ich war die ganze Zeit so auf Lorcan fokussiert gewesen, dass ich das nicht mitbekommen hatte. Als ich jetzt aber dennoch mitbekam, löste ich mich von ihm. Er runzelte die Stirn und musterte mich. Zugegeben, ich vermisste seine Umarmung. Ich vermisste seine starken Arme, die sich um mich geschlungen hatten.
           Und doch wandte ich jetzt meinen Blick ab. »Es wird langsam kühl«, redete ich mich heraus, obwohl ich genau wusste, dass dies eine Lüge war, da Lorcan mindestens die Wärme für zwei spenden konnte und sein Körper eine wahnsinnige Wärme ausstrahlte. »In meinen Armen ist es nicht kühl«, meinte er schmunzelnd. Er schien nicht wütend zu sein. Es schien eher eine Anspielung darauf zu sein, dass ich mich jeder Zeit an ihn schmiegen konnte, wenn mir kalt war. Mit rotem Kopf wandte ich mich deswegen ab und hastete so schnell ich konnte nach drinnen.
         Dort sah ich Lucie, die grinsend im Gang stand. Ihre weißen Zähne kamen zum Vorschein und es wirkte fast so, als wäre schon Weihnachten. Dabei waren es noch gute zwei Monate. Etwas weniger, aber trotzdem. »Das Bild von euch beiden werde ich irgendwann ausdrucken und aufhängen.« Stolz grinste sie mich an. Ich riss die Augen auf, als ich begriff, dass sie ein Foto von uns gemacht hatte. Auf der anderen Seite fand ich es gar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Ich fand es okay, dass sie ein Foto gemacht hatte.
           Ich hatte auch nicht das Bedürfnis, es ihr wegzunehmen. Wenn sie es mochte, konnte sie es behalten. »In deinem Zimmer?«, hörte ich Lorcan hinter mir fragen. Lucie rollte mit den Augen. »Doch nicht da. Da kann es die ganze Welt ja nicht sehen. Jeder soll sehen, wie ihr euch umarmt hat. Jeder Mann und jede Frau sollte sich daran ein Beispiel nehmen.« Nun riss ich doch die Augen auf. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Lucie dieses Bild in der Öffentlichkeit aufhängen würde.
           Das wollte ich auch gar nicht. Ich wollte protestieren, doch Lorcan kam mir zuvor. »Lucie, du wirst es nur in deinem Zimmer aufhängen.« Nun zog Lorcans kleine Schwester einen Schmollmund und sah ihn ganz drollig an. Wie ein Hund. »Bitte bitte.« Zaghaft drehte ich mich zu Lorcan um, der eisern den Kopf schüttelte. »Lucie, damit führst du Phil und die anderen doch genau zu uns. Außerdem ist das ein intimer Moment, den ich nicht mit anderen Teilen möchte.« Als er sagte, dass es ein intimer Moment gewesen sei, wurden meine Wangen noch roter. Viel zu rot.
         Momentan glichen sie der Nase von Rudolph. »Okay, tut mir leid. War eine blöde Idee«, murmelte Lucie. In dem Moment trat Lorcan neben mich und fuhr Lucie sanft über den Kopf. Die Wärme in seinem Blick war dabei unverkennbar. Er liebte seine Schwester sehr. Wirklich sehr. »Kein Problem. Du hast es ja noch nicht gemacht«, meinte er. Lucie lächelte zwar, wirkte aber noch immer etwas geknickt. Vermutlich hatte sie einfach nicht daran gedacht. Im ersten Moment hatte ich auch nicht daran gedacht.
         Ich hatte einfach nicht gewollt, dass das Bild jemand sah. Vielleicht aus den selben Gründen wie Lorcan oder aus anderen. Das konnte nicht so genau sagen. Ich senkte den Blick und betrachtete meine Socken, die statt weiß jetzt braun waren. Dank der Erde, über die ich gelaufen war. Für Lorcan. Ein Teil in mir verstand noch immer nicht ganz, wie ich das gemacht hatte und warum, Ich wusste es nicht. Meine Beine hatten sich einfach bewegt. Von jetzt auf gleich. Als ich den Blick wieder hob, sah ich, dass auch Lorcan auf meine Socken sah. Als würde er meinen Blick spüren, sah er zu mir.
          In seinen Augen lagen so viele Emotionen auf einmal, dass es mir nicht möglich war zu sagen, was er empfand. Ich empfand nur Scham in diesem Moment. Das alles war so neu und merkwürdig für mich. Für Phil wäre ich nie ohne Schuhe aus dem Haus gerannt. Im Nachhinein war diese Aktion ja auch dumm. Ich hätte mir locker Schuhe überstreifen können, deswegen wäre er ja auch schon da gewesen. »Die Schuhe hast du wohl in aller Eile vergessen«, meinte er schmunzelnd und sorgte dafür, dass ich im Erdboden versinken wollte. Jetzt auf der Stelle.
           In dem Moment boxte Lucie ihn in den Arm. »Jetzt lass sie doch mal. Siehst du nicht, dass es ihr schon peinlich ist, Bruderherz? Sie wird immer roter. Necke sie doch nicht auch noch.« Lorcans Blick glitt zu ihr. Für einen Moment sah es so aus, als würden sich nun seine Wangen rot färben, aber das konnte auch nur eine Einbildung sein. Jedenfalls glitt sein Blick zurück zu mir, doch ich wandte meinen Blick schnell ab und sah, wie die anderen den Tisch für das Abendessen deckten.
           »Ich helfe mal den anderen«, ratterte ich als Ausrede hinunter und hastete an beiden vorbei. Lorcans Blick brannte dabei auf mir, brannte sich in meinen Rücken, doch ich ignorierte das so gut ich konnte. In der Küche angekommen schnappte ich mir einfach ein paar Teller, die auf der Anrichte standen und trug sie zum Tisch. Dass Lorcan mit Lucie mittlerweile im Wohnzimmer war, ignorierte ich. Stattdessen stellte ich jedem einen Teller hin, während Hayes die Gläser verteilte. »Warst du heute bei den Mädchen?«, hörte ich Lorcan fragen.
            Als ich meinen Blick hob, sah ich, wie Hayes seinen Kopf schüttelte. »Ich habe Milan kurz besucht. Aber dann habe ich schon Lucie abgeholt. Milan sollte bald kommen. Er hat ein paar Probleme mit einem Mädchen gehabt. Also eher sie hatte ein Problem und er wollte sie noch persönlich nach Hause fahren«, meinte Hayes. Lorcan nickte. Mir fiel auf, dass ich noch immer nicht genau wusste, wer Milan war. Vielleicht würde ich es ja bald endlich mal erfahren. Dass ich es nicht wusste, setzte mir irgendwie zu.
           Ich sollte es wissen, sagte ich mir. Ich wohnte jetzt schon lange genug hier. Und doch waren es abends hier immer so viele Menschen, dass man gar nicht genug Zeit hatte, sie alle kennenzulernen. Bis jetzt kannte ich nur Lorcan, Lucie und Hayes besser als die anderen. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich draußen schwere Schritte. Kurz darauf ging die Tür auf und Schritte hallten im Flur wider. Es vergingen ein paar Sekunden, dann trat die Person zu uns ins Wohnzimmer.
           »Hey, Milan!«, grüßte Lucie den Mann mit der dunklen Haut wieder. Seine Haare waren dunkle, genauso wie seine Haut. Nur seine Augen unterschieden sich von seinem Aussehen. Sie waren blau. Stechend blau. Er war mir schon ein paar Mal aufgefallen. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als Lucie zu ihm rannte und ihre Arme um ihn schlang. Er hob sie hoch und drehte sie einmal im Kreis. »Na, Kleine? Habt ihr schöne Sachen gekauft?«
         Lucie nickte und strahlte Milan an. Dass die beiden sich so gut verstanden, schien ein Wunder zu sein. Jedenfalls für mich. Es gab nicht viele, die sich so gut verstehen würden. »Ja. Ich hab ein Kostüm für Halloween in zwei Tagen und ich habe eine neue Mütze für den Winter und ich habe ein Trikot von Hayes geschenkt bekommen, weil Lorcan es mir nicht kaufen wollte«, sagte sie. Lorcan hob eine Braue, als sie das sagte und sah zu Hayes, der nur unschuldig lächelte und mit den Schultern zuckte.
           »Und welche Mütze?«, fragte Milan sie. Lucie löste sich von ihm und rannte zu den Tüten, die sie in eine Ecke gestellt hatte, in der sie niemanden störten. Aufgeregt wühlte sie nach der Mütze, die sie kurz darauf heraus zog. Als ich die Mütze sah, konnte ich nicht anders als zu lächeln. Es war eine Mütze mit dem Saints Zeichen vorne drauf. »Ist sie nicht toll?« Milan grinste verhalten. Vermutlich war er ein Chiefs Fan. So wie viele in diesem Haus. Oder gar kein Footballfan. »Für dich bestimmt.«
           Lucie rollte bei dieser Antwort mit den Augen. »Pff, nur weil du Steelers Fan bist.« Er grinste. Die beiden schienen sich auch gut zu verstehen. Eigentlich schienen sich alle mit Lucie zu verstehen. Alle schienen sie zu lieben. Es war auch schwer dieses kleine Mädchen nicht zu lieben. Sie war perfekt und süß. Sie war wirklich sehr sehr nett. Fast schon zu nett. So ein kleines Mädchen hatte ich noch getroffen. Sie war so voller Energie, voller Lebensfreude. Und dann präsentierte sie noch ihr Trikot. Als ich erkannte, welche Nummer sich auf dem Rücken befand, konnte nicht anders als zu grinsen.
             »Jetzt habe ich beide Trikots und kann immer wieder wechseln«, meinte sie stolz. Milan sah sie einen Moment lang an, dann glitt sein Blick zu Hayes. »Was musste sie tun, damit du ihr das kaufst?« Hayes sah Milan einen Moment lang an ohne etwas zu sagen, dann sagte er: »Sie hat mich mit diesen Kulleraugen angesehen und hat tausend Argumente dafür gebracht, warum sie es noch braucht. Sie meinte, es sei den anderen gegenüber unfair.«
           Lucie strahlte von einem Ohr zum anderen, während Lorcan Hayes ansah. »Wie viel hat es gekostet?«, fragte er ihn. Hayes winkte ab. »Ist schon okay. Ich wollte es ihr so oder so kaufen. Jetzt bekommt sie zu Weihnachten eben etwas anderes.« Beide starrten sich einen Moment lang an, dann gab Lorcan schließlich nach. Er sah vermutlich ein, dass er Hayes nicht umstimmen konnte. Dafür liebte Hayes dieses kleine Mädchen viel zu sehr. In dem Moment sagte jemand hinter uns: »Das Essen ist gleich fertig.«
               Alle drehten sich zu der Person um, die gesprochen hatte. Sie sah Scarlett sehr ähnlich. Ich fragte mich, ob die beiden Geschwister waren. Doch ich wusste es natürlich nicht. Als ich zu Milan sah, sah ich da dieses gewisse Lächeln auf seinen Lippen. Besonders, als er einmal schnupperte. Es roch nach Kürbissuppe. »Machst du mal wieder deine Kürbissuppe, Claire?«, fragte er sie. Claire lächelte und nickte. »Ja, sonst jammerst du mir ja wieder die Ohren voll.« Milan grinste verhalten, während das Mädchen wieder zurück in die Küche lief.
»Aber was gibt es dann an Halloween?«, fragte Lucie etwas enttäuscht. Vermutlich hatte sie die Kürbissuppe am letzten Tag des Oktobers gewollt. »Wir können doch nochmal Kürbissuppe machen«, munterte Milan sie auf. Lucie sah ihn an. Lange. Ohne eine wirkliche Regung zu zeigen. Dann nickte sie. »Na gut.«

            Gute zehn Minuten später saßen wir alle am Tisch. Jeder löffelte in seiner Suppe. Es war erstaunlich ruhig, was vermutlich hieß, dass es allen schmeckte. Keiner sagte etwas. Ich allerdings wollte von Lorcan wissen, wo er gewesen war und was alles passiert war. Trotzdem wagte ich es nicht, die Ruhe am Tisch zu stören, weswegen ich einfach meine Suppe aß. Lucie strahlte über das ganze Gesicht. Die Kürbissuppe war wirklich lecker, wie ich Claire lassen musste. So eine gute Suppe hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.
          Vermutlich, weil sie bei uns nie gemacht worden war. Auch als ich mit Phil zusammengezogen war, hatte ich sie nie kochen können, weil er keine Kürbisse vertrug, was ein Jammer war, wenn man daran dachte, wie gut diese Suppe doch war. Allerdings bezweifelte ich, dass ich sie mit ihm teilen würde, nach dem, was er sich geleistet hatte. Ein Teil in mir konnte noch immer nicht glauben, dass er das getan hatte. Es passte nicht zu ihm. Überhaupt nicht. Es war nicht typisch. Eher so, als wäre er ein anderer Mensch gewesen. Nachdenklich rührte ich in meiner Suppe hin und her.

          »Schmeckt es dir nicht?«, fragte Claire mich und riss mich somit aus meinen Gedanken. Erschrocken zuckte ich kurz zusammen, dann sah ich auf. »Doch doch. Ich war nur kurz in Gedanken«, versicherte ich ihr. Sie musterte mich einen Moment, nickte dann aber. Vielleicht glaubte sie mir ja wirklich, beschloss ich. Um nicht mehr an ihn denken zu müssen, löffelte ich die Suppe dann dennoch leer und genoss bei jedem Mal den Geschmack aufs Neue.
           In meiner „Familie" hatte es nie besondere Traditionen zu Halloween gegeben. Gar keine, um genau zu sein. Das war schade, wenn man genau darüber nachdachte. Wirklich schade.     Überhaupt nicht passend. Überhaupt nicht. Hier schien alles anders zu sein.                       Erschreckenderweise fühlte ich mich hier wohl, obwohl ich noch gar nicht alle kannte. Es fühlte sich irgendwie an, als hätte ich endlich mein Zuhause gefunden.

Lorcan - "Sie will zu mir" ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt