Nicht mein Tag

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Einer der vielen Vorteile, dass Oma Elisa für ein paar Tage bei uns blieb, war, dass sie sich bereitwillig zur Verfügung stellte, für mich Taxifahrerin zu spielen. Bereits am Montag hatte sie mich anstelle meiner Mutter zur Schule gebracht und wieder abgeholt, am Dienstag dasselbe.
Auf der Fahrt von zu Hause in die Schule versuchte sie, mit mir nochmals über den Klinikaufenthalt in Datteln zu sprechen – sie fände es gut, wenn ich ihn machen würde, selbstverständlich wolle sie mich nicht überreden, ich könne sicher zuerst darüber nachdenken und weiter springen, sie würde mich gerne auch bringen und besuchen kommen.
„Oma, schon gut, ich hab's kapiert. Ich mache den Klinikaufenthalt ja. Aber erst, wenn Hagen vorbei ist und nur, wenn er dann noch nötig ist. Okay?", brummte ich, den Kopf gegen das Fenster ihres alten Subarus gelehnt.
Oma seufzte und bog auf den Parkplatz der Gesamtschule Hörstel ein. „Wie du meinst, wie du meinst! Hier wären wir jedenfalls."
Ich nuschelte ein Danke und schaffte es, mir ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, als ich ausstieg. Schon wollte ich die Tür zumachen, da bekam ich etwas ein schlechtes Gewissen. Ich hatte Oma doch nicht anzicken wollen.
„Hey, möchtest du mich heute zum Training begleiten?", fragte ich und drehte mich nochmals um. Meine Grossmutter schien auf den ersten Moment ehrlich verdutzt, wie wenn sie nicht glauben könnte, dass ich sie das wirklich fragte. „Zu Ludger Beerbaum? Auf sein riesiges Gestüt? Aber Joelle, ich weiss nicht...", überlegte sie und verzog den Mund.
„Ach komm, letztens hat Charlotte sogar ihren Hund mitgenommen und Ludger fand es ganz lustig! Gegen dich hat er sicher nichts!", versicherte ich und schulterte meinen Rucksack. Protestierend krampfte meine Schulter gegen die Last der Bücher, aber ich ignorierte es. Wenn es meinen Nerven nicht in den Kram passte, dass ich jeden Morgen immerhin vom Parkplatz bis zum Klassenzimmer meine Schulsachen selbst tragen musste, war das ihr Problem.
„Ich überleg's mir! Jetzt geh aber rein, Kind, sonst kommst du noch zu spät!", meinte Oma schliesslich und scheuchte mich weg. Grinsend schlug ich die Autotür zu und eilte nach einem letzten Winken zum Eingang.
Der Schulhof war beinahe leer – es war erst zwanzig vor acht, also hatte ich noch eine Viertelstunde bis Schulbeginn. Von wegen zu spät. Aber so musste ich keine Angst haben, von Paulina abgefangen zu werden. Paulina kam immer erst um zehn vor oder zu spät.
Im Gang hingegen tummelten sich die Leute. Etliche Schüler wuselten hier drin, geschützt vor dem kalten Wind draussen, hin und her, rannten die Treppen rauf oder runter. Genervt schob ich mich an einem knutschenden Pärchen vorbei und begann, ans Geländer gedrückt, die Treppen zu erklimmen.
Ich hasste die Treppen. Dort waren am meisten andere Schüler und dort streikte immer mein Rücken. Schon nach wenigen Stufen spürte ich das altbekannte brennende Krampfen in meinen Schulterblättern und musste schnaufen wie eine Asthmatikerin, um noch Luft zu bekommen.
„Verzeihung!", murmelte ich einer Gruppe von tuschelnden Mädchen zu, damit sie Platz machten. Nach der Hälfte der Strecke musste ich stehen bleiben und mich sammeln. Am liebsten wäre ich auf dem Boden flach abgelegen, aber das ging kaum, also lehnte ich mich einfach nur gegen das Geländer und atmete durch.
„Hey, Sportskanone! Alles in Ordnung?", lachte eine Stimme hinter mir. Ein Stich durchfuhr mich, als ich erschrak und mich umdrehte. Es war Charlotte. Wer sonst. „Hi!", begrüsste ich sie gezwungen fröhlich, um mir nicht anmerken zu lassen, dass mir gerade zum Kotzen zumute war. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass es mir ja jeden Morgen so ging und dass ich es bis jetzt noch jedes Mal überlebt hatte. Also konnte ich mich zusammenreissen.
„Ja, alles okay, mir war nur gerade schwindlig. Zu wenig gegessen", redete ich mich raus. Charlotte schluckte es ohne Widerrede. „Och schade, ich dachte schon, du kippst vielleicht um und fliegst die Treppe runter. So richtig episch, wie in einem Film", witzelte das blonde Mädchen und zog mich mit sich weiter. Dass das schon einmal passiert war, sagte ich ihr nicht. Auch, dass ich eigentlich noch nicht weitergehen konnte und wollte sagte ich nicht, ich biss einfach die Zähne zusammen und versuchte, ihr zu folgen, ohne allzu komisch zu laufen.
„Gehst du heute ins Training?", wollte Charlotte wissen, während dem wir nebeneinander die Treppen hochgingen. Verdutzt sah ich sie an. „Äh, ja. Wie hast du das rausgefunden?" Das blonde Mädchen zuckte mit den Schultern. „Na, du hast heute frei am Nachmittag. Ich gehe auch lieber an meinem freien Nachmittag trainieren als dann, wenn ich Schule habe", erwiderte sie mit einem schiefen Grinsen. „Oh. Aha. Lernst du etwa meinen Stundenplan auswendig?", grummelte ich schmunzelnd. Ich wollte sie schon fragen, wann sie reiten ging, da redete sie bereits weiter.
„Ich freue mich schon mega auf den Abend bei Martin! Du kommst doch auch, oder?", trällerte sie und sah mich mit glänzenden blauen Augen an. Die Hände gegen die Träger meines Rucksacks stemmend zuckte ich mit den Schultern. „Hm. Weiss noch nicht. Denke schon", antwortete ich knapp, den Blick auf meine Füsse gerichtet. An den blauen Vans klebte etwas getrockneter Dreck.
„Was?! Du musst kommen! Ich war total lange bei keinem Jungen mehr eingeladen und dann sieht Martin auch noch so gut aus!", schwärmte Charlotte. Nun klappte mir die Kinnlade runter. „Charlotte! Du hast ihn zweimal gesehen! Zweimal! Und ausserdem wirkt er wie ein kleiner Biedermann, der nicht die Eier zum Springen hat", rief ich aus, gerade so laut, dass sich einige Köpfe nach uns umdrehten. Ups.
Charlotte zog einen Flunsch. „Ja, da hast du schon recht. Aber als Reiterin musst du nehmen, was du kriegen kannst! Die Jungs in meiner Klasse nennen mich Mistschauflerin oder Sofa-Sportlerin!", jammerte sie.
Ich musste augenblicklich daran denken, dass mir Robin in der Fünften einmal gesagt hatte, ich sässe doch nur wie eine Prinzessin dort und würde dem Pferd einfach sagen, was es zu tun hätte. Als Rache hatte ich etwas Mist in einer Plastiktüte mitgenommen und ihm in der Pause in den Rucksack geschüttet. Sein Blick war unbezahlbar gewesen. Zwar hatte mir die Aktion eine ordentliche Standpauke unserer Klassenlehrerin eingebracht – sie meinte, es wäre unnötig gewesen und Robin hätte doch gar nichts getan – aber das war es wert gewesen.
„Dann sind die Jungs in deiner Klasse Kotzbrocken!", meinte ich und zuckte erneut mit den Schultern. Wir kamen oben an der Treppe an, ich musste links in die Biostunde, Charlotte rechts rum. „Danke, aber das ändert meine Meinung über Martin auch nicht! Ich geh' hin, er wirkt doch ganz nett!", seufzte sie und erlaubte sich, mich kurz zu drücken, was mich gleichzeitig freute und überforderte.
Unbeholfen erwiderte ich die Umarmung und wich etwas zu früh zurück. „Bis dann!", meinte ich hastig und verabschiedete mich.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt