Neige

1.5K 100 24
                                    

Für einen Moment fehlten mir die Worte. Die Stute, die gerade an ihrer Tränke stand und schlürfte, war etwas vom Schönsten, das ich je gesehen hatte. Ihr Widerrist überragte mich bestimmt um mehr als einen halben Kopf und ihr Fell war so weiss wie frisch gefallener Schnee. Ein echter Hingucker.
„Das ist Neige du Lys, eine Champion du Lys Tochter. Sie ist zehn Jahre alt und hat schon erfolgreich einige M**-Springen absolviert. Im Moment sind wir gerade daran, sie auf schwereren Turnieren vorzustellen. Mit dem richtigen Training könntet ihr beide voneinander profitieren. Ich habe gelesen, dass du das Reitabzeichen 2 bereits hast und deshalb in schwereren Klassen schon starten darfst. Wenn es passt, kann ich mir vorstellen, dass ihr vielleicht zusammen bis S kommen könntet, auch wenn es dafür jetzt noch zu früh ist", meinte Ludger fachmännisch.
Ich streckte ungläubig eine Hand nach der Schimmelstute aus, doch sie blinzelte mich nur an und trank dann weiter, als hätte sie mich nicht bemerkt, was mich etwas irritierte. Also zog ich die Hand wieder zurück.
„Sie ist eigentlich ein Verlasspferd, aber man muss sich vor allem in schwierigeren Parcours durchsetzen können. Ich denke, das kann ich dir zutrauen, oder?", fuhr Ludger fort. Als er schnalzte, wendete die Stute und kam majestätisch zu uns rüber an die Boxentür.
Schweigend nickte ich und griff nach dem an einem Haken neben der Box hängenden Halfter.
Eine Viertelstunde später führte ich Neige in die Halle. Hier drin fühlte ich mich zwar weniger wohl als auf dem Springplatz, aber am Himmel hatten sich die Wolken verdichtet und wiesen auf einen kommenden Regenschauer hin.
Beim Bereitmachen hatte ich den Sattel beinahe nicht auf den Rücken der Stute gebracht – sie war eins vierundsiebzig gross und ihr Springsattel musste entsprechend weit hochgehoben werden. Vor Ludger wollte ich mir jedoch nicht die Blösse geben, ihn um Hilfe zu bitten, also schaffte ich es schlussendlich mit Müh und Not, auch wenn danach beide Arme krampften und stachen.
Jetzt stand ich mit der weissen Stute, in Jeans, Turnschuhen und einer Schlabberjacke, in der grossen Halle und bereitete mich beim Nachgurten mental darauf vor, auf so ein riesiges Pferd zu steigen. Das Aufsitzen wäre das eine, das oben Bleiben das andere.
Irgendwie, mit Treppchen oder Cavaletti, würde ich da schon raufkommen, aber grosse Pferde hatten bekanntlich riesige Galoppaden und schwungvolle Trabsprünge. Ich war immer lieber kleinere Pferde geritten, weil ich mit eben diesen Dingen Mühe hatte. Dafür war das Springen auf grossen Pferden weniger furchteinflössend.

Als ich die Steigbügel nach unten zog und noch einmal am Sattelgurt ruckelte, dachte ich an die schwierige Beziehung, die ich schon immer zum Springsport gehabt hatte. Es war von Anfang an, seit ich zum ersten Mal einen Reiter auf einem Pferd über ein Hindernis hatte fliegen sehen, mein Traum gewesen, auch einmal so weit zu kommen, um in Wiesbaden oder Balve, vielleicht sogar Aachen oder Genf, mitreiten zu dürfen. Erst recht war ich darin bestärkt worden, als ich meine Reitabzeichen machte.
Aber gleichzeitig hatte ich immer einen gewissen Respekt gehabt. Springen war nicht ungefährlich, das wusste ich. Wenn man stürzte, stürzte man weit, hoch, hart und mit einer unglaublichen Wucht. Deshalb zog sich in mir bei jedem Sprung, egal wie klein, alles zusammen. Teils vor Glück und teils vor Angst. Für mich waren, zumindest im Bezug aufs Springen, die beiden Dinge nicht zu trennen, sie gingen Hand in Hand mit mir in den Parcours und entschieden, ob ich heil wieder rauskam.
Noch einmal atmete ich tief durch, dann führte ich Neige zum Treppchen und legte meine Hände auf den viel zu weit entfernten Sattel. Selbst mit der Aufsteighilfe musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und mein linkes Bein zähneknirschend dehnen, um in den Steigbügel zu kommen.
Mit einem leisen Ächzen zog ich mich hoch, schaffte es, weich im Sattel abzusitzen und atmete innerlich auf, weil meine Jeans beim Dehnmanöver nicht gerissen war. Ludger sass auf der Tribüne der Halle und sah, die Augenbrauen gerunzelt, zu mir hinunter, als hätte er jetzt schon etwas an mir auszusetzen. Heute wäre das erste Mal, dass er mich reiten sah. Und für mich wäre es das erste Mal, dass ich vor so einem bedeutenden Springreiter auf dem Pferd sass. Philipp Weishaupt hatte mich schon nervös gemacht, Ludger Beerbaum war da ein völlig anderes Kaliber.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt