„Was hast du getan? Denkst du nicht, dass das ein wenig viel ist für dich? Ich meine, wann bist du zuletzt gesprungen? Vor zwei Jahren?", schimpfte meine Mutter. "Und ausserdem haben ich und dein Vater da auch noch ein gewisses Mitspracherecht!", fügte sie hinzu und wrang die Hände auf der Tischplatte. Ich senkte die Augen und blickte auf meine Beine hinab. Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, meinen Eltern erst davon zu erzählen, nachdem ich die Email bereits abgeschickt hatte. Das hätte ich mir eigentlich denken können.
Mein Vater sass betroffen daneben und schlürfte seinen Kaffee. Es war früher Morgen, da war es ganz gewöhnlich, das Mama gereizt und Paps schweigsam war. Aber ich glaubte dennoch, in Paps Augen einen Funken Stolz zu sehen. Er war es gewesen, der mich zu meiner ersten Reitstunde gefahren hatte und er war es auch gewesen, der mich von meiner Letzten abgeholt hatte. Nun sah er, wie seine Tochter darum kämpfte, sich ihren Traum zurückzuholen, und es schien ihm nicht zu missfallen.
„Konrad, jetzt sag doch auch mal was! Joelle reitet sich da wirklich in was rein...", jammerte meine Mutter und raufte ihre Haare. Paps zuckte nur mit den Schultern. „Soll sie gehen. Wenn sie's packt, is' gut, wenn nicht, dann isses eben so", nuschelte er, ohne die Kaffeetasse abzustellen.
Mama sah ihren Mann einen Moment lang ungläubig an und stand dann, kopfschüttelnd, auf. „Ich bin von Verrückten umgeben!" Sie nahm ihren Teller, auf dem die halb gegessenen Reste eines Croissants lagen, stopfte sich diese in den Mund und ging zur Küche rüber. „Stell dir doch vor, was dort alles passieren kann! Du bist ganz bestimmt nicht in der Verfassung, um gleich wieder auf diesem Niveau anzufangen!", rief sie mit vollem Mund. Es klapperte, als sie den Teller in die Spüle stellte. Ich erinnerte mich daran, wie sie kein einziges Mal zu einer Springstunde gekommen war, weil sie mich nie hatte stürzen sehen wollen. Sie hatte nie meine Freude gesehen, nie meine Leidenschaft erlebt. Zumindest nie richtig. „Du weisst genau, dass du dir keine Stürze leisten kannst! Noch schlechter soll's dir doch auch nicht gehen!", fuhr sie fort, es klapperte erneut. Das Geräusch des Wasserhahns erklang.
„Ich bin aber auch nicht in der Verfassung, so weiterzumachen. Ich bin nun schon zwei Jahre krank, zwei ganze Jahre. Ich will mich nicht mehr schonen, damit gebe ich diesem Scheiss doch genau das, was es will!", protestierte ich. Aus der Küche schepperte es ein weiteres Mal, diesmal lauter. Der Wasserhahn verstummte wieder. Mama hatte ihren Löffel fallen lassen und stützte sich nun mit beiden Händen am Becken ab. Meine Krankheit war ein Thema, das sie nur ungern ansprechen wollte. Sie redete nicht darüber, sie wollte kein Wort darüber hören, als wollte sie nicht akzeptieren, dass ihre Tochter nicht gesund war. Mit schmalen Lippen drehte sie sich zu mir um und meinte kühl: „Na gut, dann geh eben. Mach doch, was du willst! Mit dieser Krankheit wirst du das nie schaffen, aber das merkst du wahrscheinlich früh genug selbst. Heul dich nicht bei mir aus, wenn du dir ein Bein brichst." Mit gesenktem Kopf verliess sie das Wohnzimmer und rauschte die Treppe hoch. Paps sah mich verlegen an. Seine Augen huschten kurz zur Treppe, dann rückte er näher an mich heran. „Und dieser Ludger Beerbaum, der hat dich wirklich persönlich eingeladen?"Ich war nie jemand gewesen, der schnell nervös wurde. Aber als ich an diesem Tag in der Schule sass, tanzten in meinem Bauch Tausendfüssler Stepp. Ich wusste nicht einmal, warum ich nervös war. Immerhin wurde ja nicht bei der Anmeldung vorentschieden, wer zum Vorreiten durfte und wer nicht. Es war nur die Anmeldung, reiten musste ich danach immer noch selbst.
Trotzdem, den ganzen Tag über konnte ich weder den Lehrern, noch meiner besten Freundin Alma zuhören. Am Ende wurde ich von Frau Richter zurückgehalten und gebeten, mit ihr noch kurz ein Wort zu wechseln.
„Joelle, ich weiss, dass es im Moment gerade sehr schwer für dich ist. Deshalb wollte ich fragen, ob alles okay ist. Du hast heute so abwesend gewirkt", fragte sie mich mit diesem typischen besorgten Blick. Warum hielt sie es für nötig, mit mir zu sprechen? Ich war heute, trotz meiner Nervosität, kein einziges Mal vom Stuhl gekippt. Also zog ich gespielt verwirrt die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel nach unten. „Echt? Nein, alles super. Ich war vielleicht ein wenig müde, ich habe gestern Abend zu lange für Chemie gebüffelt", entgegnete ich. Nachdem ich ein zweites Mal beteuert hatte, dass es mir im Moment gar nicht einmal so schlecht ging, sauste ich aus dem Klassenzimmer und nahm im Gang mein Handy aus der Jackentasche. Normalerweise war es immer im Rucksack verstaut, aber heute wollte ich es bei mir haben. Während dem ich zügig den Gang entlangging und die Treppe nach unten eilte, checkte ich meine Emails. Tatsächlich war eine neue Nachricht gekommen. Während dem mein Herz einen Hüpfer machte, schaltete ich mein Handy wieder ab und joggte zur Ausgangstür.
Vom Parkplatz aus winkte mir meine Mutter zu und ich winkte zurück. Sie hatte meistens gleichzeitig Schluss wie ich, also nahm sie mich jeweils mit nach Hause. Sonst müsste ich mit dem Fahrrad zurück fahren, was mich eine halbe Stunde kosten würde.
„Hallo, Mäuschen, wie war's in der Schule?", begrüsste sie mich und stieg auf der Fahrerseite ein. „Ganz gut", beantwortete ich ihre Frage pauschal, als ich auch eingestiegen war. Kaum hatte ich mich angeschnallt, packte ich mein Handy wieder und tippte auf die Email. Sie war tatsächlich von den LB Stables.Sehr geehrte Frau Engel
Vielen Dank für Ihre Anmeldung. Anbei finden Sie ein Formular, das Sie ausfüllen und uns bis zum 20. März zukommen lassen sollten.
Freundliche Grüsse,
Erika Roth, Stall- und Turnierbüro LB StablesIm Anhang fand ich das Formular. Obwohl es eigentlich noch nichts war, fühlte ich einen kleinen Triumph. Immerhin die Anmeldung hatte ich beinahe hinter mir. Sobald ich dieses Formular abgeschickt hatte, gab es kein Zurück mehr.
Ich traute mich den ganzen Abend lang nicht, das Formular anzufassen. Direkt nach meiner Ankunft zu Hause druckte ich es aus, packte es, nahm es hoch in mein Zimmer und schleuderte es auf den Schreibtisch, als wäre es eine heisse Kartoffel.
Dort lag es nun, seit mehr als zwei Stunden, und ich starrte es an wie jemand, der nicht ganz richtig war, unfähig, mich ihm zu nähern. Die Unsicherheit war wieder da, sie hatte den Triumph mitsamt meiner Entschlossenheit geschluckt und an einen Ort gesperrt, an dem ich sie nicht mehr fand. Noch gestern war ich mir so sicher gewesen, dass ich das tun musste, und jetzt... Ich atmete tief durch, grub meine Hände in die dunkelblaue Bettdecke, auf der ich sass. Ich konnte das, ich brauchte nur Zeit. Ich würde das schon packen. Ganz bestimmt. Rhythmisch atmete ich ein und aus und zwang mich, aufzustehen.
Ich musste humpeln, weil mein linker Fuss unangenehm stach und krampfte, aber ich schaffte es bis zum Schreibtisch. Da lag das Formular, schien mich böse anzuschauen. Mit bebender Hand nahm ich einen Stift. Meine Zähne knabberten an meiner Unterlippe herum, als wollten sie eigenmächtig versuchen, mich so zu beruhigen.
Brennen zuckte durch meine Finger, wie wenn der Kugelschreiber glühend heiss wäre. Schon wollte ich loslassen, aber ich nahm den Stift stattdessen in die andere Hand und setzte ihn auf dem Papier ab. „Joelle Hannah Engel", schrieb ich beim Namen mit krakeliger Linksschrift hin. Ich wusste, dass ich das Formular heute ausfüllen und morgen vor der Schule zur Post bringen musste, damit meine Mutter mich nicht aufhalten konnte. Ein kleiner Teil in mir drin flüsterte, dass ich vielleicht genau das wollte – dass meine Mutter mich davon abhielt. Dann müsste ich die Entscheidung nicht selbst treffen, dann würde sie sie mir abnehmen. Das wäre einfacher. Der grössere Teil jedoch wusste, dass ich es wollte, aber einfach nicht genug Mut hatte. „Du packst das eh nicht!", schrie dieser Teil. „Weichei!" „Krüppel werden keine Springreiter!"
Mit voller Trotz vorgeschobenem Unterkiefer schrieb ich weiter, füllte ein Kästchen nach dem anderen aus. Schlich mich ins Untergeschoss, um eine Kopie der Urkunde meines Reitabzeichens zu machen, die ich beifügen musste. Und am nächsten Morgen rannte ich zur Post, bevor meine Eltern überhaupt wach waren, und gab den Umschlag wie einen kleinen, weissen Dämon ab. Als ich wieder zu Hause ankam, sass Mama am Tisch und sah mich nur an. Ich wusste, dass sie wusste, was ich getan hatte. „Deine Entscheidung!", schienen ihre Augen zu sagen, doch ihr Mund sagte nur: „Toast liegt in der Küche."
Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer hinauf und lief als erstes zum Fenster an der linken Seite, um es zu öffnen. Mir wehte frische Morgenluft entgegen, die den Hauch von Frost, den ich schon auf dem Weg zur Post gerochen hatte, noch nicht verloren hatte.
Mit einem Blick der Seite sah ich die Wand an, an der mein Bett stand. Sie war gefüllt mit Bildern und Postern. Die Bilder zeigten stets mich beim Reiten, die Poster entweder berühmte Springreiter oder sonstiges Pferdezeugs. Inmitten von all dem prangte die Autogrammkarte. Ludgers Schrift stach mir ins Auge, die Linien des schwarzen Filzstiftes schienen zu pulsieren. Es war nur ein Fetzen Papier, eigentlich, aber für mich bedeutete er so viel. Lächelnd sog ich die kühle Luft von draussen in meine Lungen. Ich hatte das richtige getan.
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Keep Dreaming - Ich werde reiten
Novela JuvenilDas Springreiten ist ihre Leidenschaft, seit sie denken kann. Eine Leidenschaft, die zwei Jahre lang gewartet hat, wieder geweckt zu werden. Denn seit jenem schicksalshaften Frühling, seit jenem Unfall, seit sie auf einmal krank geworden ist und ni...