Delirium

1.2K 94 9
                                    

Als ich am Samstagmorgen in der Stallgasse der LB Stables stand und mit dem Striegel Neiges weisses Fell putzte, konnte ich kaum glauben, was ich gestern Abend herausgefunden hatte. Alessia. Alessia König, das Ausnahmetalent im Springsport. Die Alessia, die in diesem Moment nur wenige Meter von mir entfernt Vendetta davon abhielt, ihr die Finger abzubeissen. Die Alessia, eine Pferdediebin? Das konnte gar nicht sein.
Mit jedem einzelnen Bürstenstrich war ich mir sicherer, der falschen Spur zu folgen. Alessia war ein Springcrack, eine Pferdeliebhaberin und eine ehrgeizige Sportlerin, aber keine Pferdediebin. Allerdings musste ich zugeben, sie noch nicht so gut zu kennen. Meine Bekanntschaft mit ihr beschränkte sich auf die wenigen Trainings. Dort war sie mir als überaus fokussierte Reiterin, die ihr Pferd nur knapp lobte, aber stets fair behandelte, vorgekommen. Was hätte sie für Gründe, Borromeo zu stehlen? Nein, das konnte nicht sein. Diese Spur konnte gar nicht in die richtige Richtung führen. Und ich durfte nicht anfangen, wahllos Menschen zu beschuldigen, nur weil ich mir nicht eingestehen konnte, dass ich eigentlich die Nase nicht in diese Sache reinstecken sollte.
Ludger hatte heute einen weiteren Diebstahl verkündet, diesmal waren es Salzlecksteine. Wieder keines der Pferde angerührt, nicht einmal eine Box geöffnet. Die Gedanken an Ronjas Nachricht liessen mich auch nicht los, als ich Neige unter ächzenden Geräuschen den Springsattel auf den hohen Widerrist hievte und den Sattelgurt zuzurrte. War das möglich? Und sollte ich wirklich weiter nachforschen?

„So, gehen wir mal an die Arbeit!", begann Ludger eifrig und klatschte in die Hände. Leicht nervös zuckte mein Blick zu ihm und zu der Frau neben ihm. Es war Linda Vermeulen, gekleidet in ihre berühmt berüchtigte weinrote Stalljacke, die stechenden Augen prüfend auf die drei Reiter gerichtet. Mich, Charlotte und Alessia.
Vielleicht war es nur ein Gefühl, aber ich wurde es nicht los und glaubte immer wieder zu bemerken, wie sie mich am eindringlichsten beobachtete. Als wäre ich entweder das, wonach sie immer gesucht hatte, oder das, was sie am schnellsten wieder loswerden wollte.
Heute musste ich glänzen, durfte ihr keine Zweifel daran geben, dass ich die Richtige für diesen Trainingsplatz war. Und sie durfte nicht merken, dass mir schon seit gestern um Mitternacht alles wehtat, als hätte mich ein Truck überfahren. Sie wusste, dass ich CRPS bekommen hatte. Sie wusste zumindest, dass nach dem Unfall mit Herodot nicht alles wieder ganz gut geworden war. In Laggenbeck hatte ich es geschafft, sie anzulügen, aber würde ich es ein weiteres Mal schaffen, wenn ich ihr Anlass gäbe zu glauben, ich hätte ihr nicht die Wahrheit erzählt?

Wie erwartet war mir kotzübel, als ich Neige durch die Bahn an den aufgestellten Hindernissen vorbeitrabte. In meinem Kopf summte es und am liebsten hätte ich mich einfach nur auf den langen Hals der Schimmelstute gelegt und die Augen geschlossen. Jedes Aufstehen im Sattel, jedes Zupfen am Zügel, jeder Windhauch schmerzte. Ich musste heftig blinzeln, um meine Konzentration auf die Reitbahn zu lenken, weshalb Alessia mir eigenartige Blicke zuwarf. Sah man mir an, wie es mir gerade ging?
„Fersen weiter runter, Joelle! Du kannst dich nicht nur mit den Knien festhalten!", tadelte Linda streng. Es kostete mich unglaubliche Anstrengung, die Fersen nach unten zu drücken und ich hielt es genau so lange durch, bis sie wieder wegsah. Zähneknirschend wechselte ich mit Neige die Hand und richtete sie dann auf die Volte.
Charlotte kämpfte gerade damit, Princess im Galopp zu halten und Alessia richtete eine abgrundtief böse dreinschauende Vendetta rückwärts. Die Ohren der dunkelbraunen Stute lagen wie immer schier flach an und die Augen funkelten unheimlich – diesem Tier wollte ich auf keinen Fall zu nahe kommen. Auf einmal war ich froh, dass ich mich „nur" mit Neige rumschlagen musste, die heute einen recht guten Tag zu haben schien. Ich war sie bereits aus dem Trab einige erhöhte Cavaletti geritten und sie hatte keine Anstalten gemacht, sich meinen Hilfen zu widersetzen.

„Charlotte, ich will dich über den Oxer springen sehen!", ordnete Linda an. Das blonde Mädchen nickte mit verzogenem Gesicht und bemühte sich darum, Princess vorwärtszutreiben. Die Scheckstute grunzte unschön und schien beinahe über den lockeren Sandboden zu schlurfen, aber als sie mit Charlotte über den Oxer sprang, blieben die Stangen liegen.
„Ich habe schon Esel motivierter springen sehen! Nochmal, diesmal schneller!" Lindas Stimme klang eisern und streng – so, wie ich es mich gewohnt war. Als kleines Mädchen hatte mir das Angst gemacht, aber mit den Jahren war es für mich zur Normalität geworden. Ausserhalb der Reitbahn war Linda ein überaus sanfter Mensch, aber als Reitlehrerin konnte sie an Durchsetzungsvermögen nicht überboten werden.
Charlotte schnitt eine enttäuschte Grimasse. Ihr Gesicht war rot vor lauter Anstrengung dadurch, dass sie Princess immer treiben musste. Jetzt versuchte sie es offenbar mit allen Mitteln, die grossrahmige Stute in die Gänge zu bekommen, aber die wollte nicht so recht. Wieder blieben die Stangen liegen und wieder war Linda nicht zufrieden.
„Mein Gott, das ist doch nicht so schwer! Alle mal zur Seite, macht den ersten Hufschlag frei", verlangte sie sichtlich genervt und winkte uns in die Hallenmitte.
Verwirrt stellte ich Neige neben einen Steilsprung, gleichzeitig froh über die Pause. Ich nahm die Füsse aus den kurzgeschnallten Steigbügeln und streckte die Beine kurz durch, um das Krampfen in meinen Oberschenkeln zu vertreiben. Ohne Erfolg.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt