Borromeo

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Ich war mir durchaus darüber im Klaren, wie dumm mein Handeln war, als ich mit gebührendem Abstand hinter dem Dieb herfuhr, darauf hoffend, der schützende Mantel der Nacht würde mich vor ihm verbergen, falls er doch zurückschaute. Nie im Leben würde mich die Dunkelheit davor bewahren, dass er mich entdeckte. Deshalb konnte ich eigentlich nur auf eines hoffen, und zwar darauf, dass er so zielstrebig war, dass er nicht zurückblickte.
In meinem Kopf schwirrten die wildesten Gedanken umher – der Dieb war ein Schmuggler, der das Pferd solange versteckte, bis Gras über die Sache gewachsen war, der Dieb war bewaffnet und ich würde mich in grosse Gefahr bringen, der Dieb würde mich auch schnappen und gefesselt in eine Höhle stecken, und so weiter, und so fort.

Über mir flog eine Fledermaus durch die Luft, irgendwo zirpten Zikaden und ganz in der Ferne glaubte ich, eine Eule zu hören. Die Autos von der Münsterstrasse waren nur noch ein leises Rauschen. Wenn ich bis zum Horizont schaute, dort, wo der Himmel auf die flache Landschaft des Münsterlandes traf, konnte ich vielleicht noch einen winzigen Streifen violett erkennen, doch der Rest war in tiefe Blautöne getaucht.
Der Dieb bog mit seinem Fahrrad und der Beute auf den Lager Damm ab, die Strasse, die ich bereits mit Ronja für unseren Ausritt benutzt hatte. Wenig Menschen kamen hier vorbei und entlang des Weges gab es nur einige kleine Gehöfte und alleinstehende Häuser.
Ich vergrösserte den Abstand zwischen mir und dem Dieb etwas, da mir immer mulmiger zumute wurde. Eigentlich wollte ich mein Handy hervornehmen und doch die Polizei oder immerhin Paps anrufen, aber das Aufleuchten des Bildschirms hätte mich vermutlich verraten. Das konnte ich mir nicht leisten. Wenn ich diejenige war, die den Dieb entlarvte, dann würde das Ludger und Linda bestimmt Eindruck machen und meine Stellung bei den beiden zumindest ein wenig verbessern. Und es wäre ein Triumph für mich. Also radelte ich nur stillschweigend mit eingezogenem Kopf hinter dem Schemen her, der nach wenigen Minuten schliesslich auf den Brachtesendeweg abbog und somit die Zivilisation endgültig verliess.

Aus meinen Erinnerungen wusste ich, dass am Ende des Weges zwar noch ein Stall mit Pferden stand, dann aber die Strasse zu Schotterpfad wurde und direkt in den Wald führte. Und genau dorthin schien der Dieb zu wollen. Ohne eine Regung fuhr er am Stall vorbei und weiter in den Wald, wo er zwischen den Bäumen verschwand.
Ich trat etwas zügiger in die Pedale, um ihn nicht zu verlieren. Kaum erreichte auch ich den Wald, verschluckte mich die Düsternis unter den Baumkronen und ich musste kurz trotzdem langsamer fahren, damit sich meine Augen daran gewöhnen konnten. Sterne und Mond durchdrangen mit ihrem Licht kaum die dicht stehenden Kronen und tauchten dadurch den Weg in tiefe Schatten. Jetzt musste ich vorsichtig sein.
Auf dem Schotterweg würde der Dieb mein Fahrrad hören, fiel mir plötzlich ein. Deshalb stieg ich kurzerhand ab, legte das Rad hin und joggte auf dem von Moos bedeckten Randstreifen zwischen Weg und Wald weiter. Der Dieb hatte nun recht Vorsprung gewinnen können und ich konnte ihn kaum noch sehen, er war nur noch ein sich bewegender Klecks in ineinander übergreifenden Tönen von Schwarz. Auf gut Glück rannte ich weiter.
Nach einigen Metern sah ich jedoch nichts mehr und taumelte nur noch verwirrt umher. Da waren nur noch die unscharfen Umrisse von Bäumen, sonst nichts. Und dann hörte ich plötzlich einen Schrei.

Entsetzt fuhr ich herum und blickte geradewegs in das blendende Licht einer Taschenlampe. „Heilige Scheisse, Joelle!", rief eine mir bekannte Stimme und ich wich blinzelnd, die Hände schützend vor dem Gesicht, zurück. „Alessia?", staunte ich atemlos, langsam wagend, sie anzusehen.
Tatsächlich, das rothaarige Mädchen stand vor mir, die Taschenlampe wie eine Waffe umklammert, die Wangen glänzend. Wie in drei Teufels Namen?! „Du bist der Dieb! Du hast beim Pignatelli Borromeo und bei Ludger das Futter gestohlen!", brachte ich hervor und zeigte mit dem Finger auf sie.
Mit grossen Augen ging sie zwei Schritte von mir weg und schüttelte den Kopf. „Was redest du da, Joelle?" Ich spürte Zorn in mir hochsteigen, als hätten die Angst und die Überraschung eine chemische Reaktion in mir drin ausgelöst.„Stell dich nicht dumm, Alessia, ich weiss, was du getan hast!", knurrte ich.
Das Mädchen baute sich vor mir auf. Sie war grösser und kräftiger als ich, wenn sie wollte, könnte sie mich überwältigen. „Das sind ganz schön heftige Anschuldigungen dafür, dass du keine Beweise hast!", zischte sie mit düsterem Gesichtsausdruck. In dem Moment erklang ein leises Wiehern aus der Dunkelheit. Wir beide zuckten zusammen und sahen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, Alessia ängstlich, ich erstaunt. „Das ist Borromeo, nicht?", flüsterte ich, entriss dem rothaarigen Mädchen die Taschenlampe und eilte dem Wiehern entgegen.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt