Zurück zum Alltag

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In den Tagen nach dem vierten April war es, als wäre ich nie bei diesem Vorreiten gewesen. Alles ging wieder zurück zum Alltag und mehrmals wachte ich am Morgen mit dem eigenartigen Gefühl auf, alles wäre nur ein Traum gewesen. Aber ich hatte auch recht behalten und schaffte es kaum, die Finger von meinem Handy zu lassen und nicht ständig nachzuschauen, ob die alles bedeutende Email schon eingetroffen war. Und je länger es dauerte, desto sicherer war ich mir, nicht genommen zu werden.

„Und wer kann mir jetzt sagen, wie man diese Gleichung nach x auflöst?", fragte Frau Thorsten, unsere Mathelererin. Sie war eine dürre Frau mit schwarzen Fäden als Haaren, die aussah, als wäre sie ein Geist, aber ich mochte sie. Einen Moment lang dachte ich nach, dann streckte ich kerzengerade auf und war somit nur eine Sekunde schneller als Maximilian, welcher mich daraufhin böse von der Seite anschaute. „Ja, Joelle?"
„Man muss zuerst die binomische Formel anwenden, dann bekommt man (x-5) hoch 2 + 3 = 7. Man kann die drei auf beiden Seiten subtrahieren, dann die Wurzel ziehen und noch fünf addieren, dann bekommt man für x entweder 7 oder 3", rechnete ich. Frau Thorsten nickte ohne eine Gesichtsregung. „Genau, das ist richtig! Diese Technik könnt ihr bei allen Thermen anwenden, die so aussehen, bei schwierigeren nehmt ihr die Mitternachtsformel! Am wichtigsten ist sie, um bei Parabelgleichungen die Nullstellen herauszufinden. Wer kann mir nochmal sagen, was die Nullstellen sind?" Diesmal war Maximilian schneller und erklärte uns das Prinzip der Nullstellen und wie man sie berechnete.
Mein Blick huschte zu Paulina hinüber, die mich schon die ganze Stunde lang immer wieder komisch angestarrt hatte. Sie war nicht wirklich gut in Mathe, weshalb sie sich sowieso nicht meldete. Meist hörte sie heimlich Musik im Unterricht und fragte dann vor den Prüfungen nach einer Zusammenfassung des Stoffs – die ich ihr jedes Mal mit grösster Genugtuung nicht gab. Einmal hatte ich mir den Spass erlaubt, ihr falsche Zusammenfassungen zu geben und danach tagelang darüber gelacht, dass sie in der Geschichtsprüfung tatsächlich geschrieben hatte, dass Napoleon vor seiner Verbannung nach Chile geflüchtet war und dort einen neuen Staat aufbauen wollte. Totaler Schwachsinn, aber genauso hohl in der Birne war Paulina. Für sie gab es nur ihren Beauty-Channel auf Youtube, die neuste Kollektion im Tally Weijl und die Gruppe ihrer Bewunderer, die sich auf Instagram tummelte. Eine durch und durch oberflächliche Persönlichkeit. Dass sie die Tochter des Rektors war, hatte ihr schon mehr als einmal den Hals gerettet.
Gerade jetzt gaffte sie wieder zu mir rüber, als hätte ich in der Pause eine Warze auf der Nase bekommen. Ich schnitt eine Grimasse und sah dann wieder weg. Dumme Schnepfe.

Unsere Schule war eine Gesamtschule. Das hiess, dass hier jede Art von Kind zur Schule ging. Von den Kleinsten bis zu den Grössten, von den Hochbegabten bis zu denen, die dumm wie ein Brot waren. Es konnte abwechslungsreich sein, so viele verschiedene Menschen um sich herum zu haben. Ich fand es nervig.
Dass so viele unterschiedliche Niveaus hier zu finden waren, bedeutete, dass die Schmierereien voller Grammatik- und Rechtschreibefehler, die Schulhöfe voller kleiner Kinder und die AGs dominiert von zukünftigen Akademikern waren, deren Eltern sie nicht aufs Gymnasium in Ibbenbüren schicken wollten. Ich selbst hatte nie aufs Gymnasium gewollt. Ich war zwar klug und das meinten auch die Lehrer, aber ich war nicht der Typ fürs Gymnasium. Ich war nicht der Typ, der Chemie studierte oder Chirurgin werden wollte. Ich war der Typ, der nach der Schule seine Springturniere schauen und am Wochenende im Stall sein wollte.
All die Hausaufgaben und Tests bekam ich immer gut unter den Hut und schnitt auch gut ab, aber ich wusste, dass auf dem Gymnasium ein anderer Wind wehen würde und ich wollte nicht, dass sich in dieser Hinsicht etwas für mich änderte.
Schon nach den Sommerferien wäre ich in der zehnten, dann würde die gymnasiale Oberstufe für mich beginnen. Das Wort Gymnasium steckte auch hier drin, aber es bedeutete etwas anderes. Ich blieb auf der Gesamtschule Hörstel und bis auf die regulären Änderungen, die es jedes Jahr gab, würde es fast keine Neuerungen geben. Und nach Ibbenbüren war es zwar weniger weit, aber dafür war es gut sechs- bis siebenmal so gross wie Hörstel. Ich mochte keine Städte, mir reichten die circa achttausend Einwohner von Hörstel schon. Noch ein Name, der Paulina mir gab – Landei. Sie kam ursprünglich aus Köln und musste sich immer noch an die ländliche Umgebung hier gewöhnen. Schon seit Jahren schien sie ihre Eltern anzuflehen, wenigstens nach Ibbenbüren zu ziehen, aber diese liessen sich nicht erweichen.
Bis der Tag kam, an dem Paulina für immer aus meinem Leben trat, sei es durch einen Umzug, oder weil sie endlich in die Förderschule abgeschoben wurde, würde ich sie weiter damit nerven, mit meiner nach Pferd riechenden Reitjacke in die Schule zu kommen oder den Matsch von meinen Schuhen an ihren weissen Nike Airs abzuwischen. Unsere Feindschaft beruhte also auf gegenseitigen Sticheleien.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt