Das erste Training

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Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich das erste Mal auf einem Pferd gesessen hatte. Es musste wohl so in meinen Kindergartenjahren gewesen sein. Oder früher.
Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wann ich das erste Mal ein Springturnier gesehen hatte. Das Internationale Pfingstturnier in Wiesbaden 2011. Ich war damals etwa sieben oder acht gewesen und hatte wie gebannt auf den Bildschirm gestarrt. Wie die Reiter da auf ihren edlen Pferden über die Hindernisse flogen, es hatte so anmutig gewirkt, dass ich geglaubt hatte, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben.
Ludger Beerbaum hatte dieses Turnier damals auf Chaman gewonnen. Das war der Ursprung meiner Bewunderung für ihn gewesen. Ich sah diesen älteren Herrn auf seinem grossen braunen Hengst über den Platz reiten, so ruhig, als gäbe es nur ihn und dieses Pferd. Keine Zuschauer mehr, keine gewaltigen Hindernisse mehr, keine Nervosität mehr. Und dann verschmolzen die beiden zu einem Team und pusteten alle anderen weg.
An diesem Tag hatte ich geschworen, dass ich fortan nur ein einziges Ziel und ein einziges Ziel allein hätte – ebenso anmutig durch einen Parcours zu reiten, während dem tausende von Menschen mir zujubelten und dabei ebenso ruhig zu bleiben.
Noch im selben Jahr begegnete ich Linda Vermeulen das erste Mal. Sie war neu hier im Münsterland, hatte gerade eben den Hof Vermeulen von ihrem verstorbenen Vater geerbt und wollte es mit dem Ziel führen, kleinen Kindern den Reitsport näher zu bringen, da sie nach einem Sturz auf einem Geländeparcours selber nicht mehr reiten konte. Es war meine Gelegenheit gewesen.
Irgendwie hatte ich heute das Gefühl, dass wir damals gemeinsam gewachsen waren. Während dem ich immer besser und besser wurde, hatte sie immer mehr Selbstvertrauen. Kaufte mehr gute Pferde, nahm mehr Schüler auf, begleitete sie auf die ersten Turniere. Aus dem kleinen Hof Vermeulen wurde das Reitzentrum Vermeulen, ein angesehener Treffpunkt für Gross und Klein, an dem allerhand Menschen zusammenkamen, um zu guten Reitern zu werden.
Sereina war ein Jahr nach mir auf Vermeulen angekommen. Damals hatte sie noch keine eigenen Pferde gehabt, aber sehr wohl ihren Ehrgeiz. Sie war gekommen mit dem Ziel, eines Tages Aachen zu gewinnen. Und danach auf der ganzen Welt reiten zu können.
Anfangs hatten wir uns gut verstanden. Wir waren beide ehrgeizig und jung und hatten dieselben Interessen. Doch dann war etwas passiert, das ich bis heute nicht ganz vergessen konnte. Etwas, das unsere Beziehung für immer zerstört hatte...

An diesem Sonntagmorgen musste ich daran denken, was damals passiert war. Als ich mein Fahrrad auf den von den gestrigen Regenschauern noch ganz feuchten Rasen des Innenhofs warf, tauchten wieder Bilder dieses Tages in meinem Kopf auf. Wie Schnappschüsse, nur blitzartig, so schnell wieder verschwunden, dass ich sie kaum greifen konnte. Schneebedeckte Felder. Eisig glitzerndes Kies. Ein Pferd, das auf drei Beinen davongaloppierte.
Es hörte auf, sobald ich Charlotte auf mich zukommen sah. An ihrer Seite galoppierte ein grosser dunkelbrauner Hund, der wie wild mit dem Schwanz wedelte und aufgeregt zu dem blonden Mädchen aufsah.
„Hallo, Charlotte!", rief ich ihr zu und winkte. Der Hund blieb stehen, bellte einmal und kam dann auf mich zugerast. „Und hallo, Miles!", begrüsste ich den belgischen Schäfer, welcher überschwänglich an mir hochsprang. Er war Charlottes Hund und, trotz seines respekteinflössenden Äusseren, ein äusserst liebevoller Zeitgenosse, der einen Einbrecher wohl eher zu Tode geleckt, als tatsächlich zugebissen hätte.
„Tut mir leid, mein Vater hat ihn mir heute aufs Auge gedrückt. Sie wollten beide zu meiner Tante nach Emsdetten fahren und ich hab dir doch erzählt, wie schlecht Miles sich benimmt, wenn er alleine ist!" „Und deine Geschwister?", bohrte ich nach. Charlotte hatte eine sehr grosse Familie. Eigentlich waren kaum einmal alle ausser Haus. Das blonde Mädchen zog einen Flunsch. „Ach, Irina ist gerade in Lübeck mit ihrem Turnverein, Maria ist mit Mama und Papa mitgefahren und Elias hat neuerdings eine Freundin."
Ich lachte und schnappte mir meinen Helm aus dem Fahrradkorb. „Na dann... Los, gehen wir, bevor Ludger ungeduldig wird!", forderte ich sie auf. Widerwillig folgte Charlotte mir über den Innenhof zum Reiterstübchen, Miles trabte hechelnd neben uns her.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt