Besuch bei Zidane

1.5K 101 1
                                    

Zwar nahm ich mir vor, bis zum Samstag noch schön fleissig zu lernen und mich zu gedulden, aber bereits am Mittwoch scheiterte ich bereits kläglich und rief deshalb die Email-Adresse der LB Stables auf.
Ich bedankte mich nochmals tausendmal für die einmalige Chance, dort trainieren zu dürfen und schrieb davon, dass sie auf mich zählen könnten. Dann kam ich zur Sache und schrieb, dass ich gerne vorher schon vorbeikommen würde, um bei Zidane vorbeizusehen.
Der kleine braune Wallach hatte mir am Samstag und in den Tagen danach unheimlich leidgetan – Sereina hatte kein Recht gehabt, seine Gesundheit so aufs Spiel zu setzen. Und für ein Sportpferd, egal von welchem Kaliber, war es definitiv schwer, von hundert auf null herunterzuschalten:
Ich hatte es schon oft gehört und mein Vater schon mehr als genug gesehen. Springpferde, die mit einer Pause nicht klarkamen und die eigentliche Verletzung noch schlimmer machten, weil sie sich selbst keine Ruhe gönnen konnten. Keine Ruhe gönnen wollten. Viele waren zu Maschinen herangezüchtet worden, die zwar Häuser sprangen, aber sonst in einer Box stehen mussten, weil sie sich auf der Weide ein Bein brechen würden. Maschinen, die man mit Führketten vom Stall zum Putzplatz bringen musste, weil sie einem sonst die Arme ausrissen.
Ludgers Antwort liess nicht lange auf sich warten. Natürlich könnte ich vorbeikommen, das wäre absolut kein Problem. Ob Donnerstag um vier Uhr okay sei. Am Ende der Email hinterlegte er mir eine Telefonnummer – so sei es praktischer und er würde sie am Samstag den andern Junioren sowieso auch geben.
Am Donnerstag hatte ich bis etwas nach drei Schule, also würde es knapp werden, aber ich sagte zu. Wenn es etwas gab, wofür ich meine Hausaufgaben um zehn Uhr abends machen würde, dann war es der Trainingsplatz bei Ludger Beerbaum.

Am Donnerstag also hetzte ich, sobald meine Mutter ihren Wagen parkiert hatte, die Einfahrt hoch, durch die Tür, ein Hallo schnaufend an Papa vorbei, die Treppen hoch und in mein Zimmer. Ich öffnete die Schranktür und sah hinein. Wo war meine alte Jeans hin?!
Ich hatte ein Paar alte Jeans, die ich immer im Stall trug, wenn ich beim Pferd war, aber nicht reiten wollte, und dieses Paar war jetzt nicht da. „Mama, hast du meine Stalljeans in die Wäsche getan?", rief ich runter. Kurz herrschte Stille. „Kann sein, dass die in deinem Wäschekorb liegt. Ich sehe mal kurz nach!", gab meine Mutter zurück.
Eilig nahm ich ein schlichtes schwarzes T-Shirt und meine graue Schlabberjacke aus dem Schrank und zog die schon mal an. Als ich meine Turnschuhe unter dem Bett hervorholte, kam Mama mit meinen Jeans in der Hand in mein Zimmer.
„Hier, bitteschön! Und räum bitte so bald wie möglich mal dein Zimmer auf, ich kuck mir den Saustall lieber gar nicht erst an!", meinte sie und sah mir in die Augen. Ihr Blick war tadelnd, aber ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wird gemacht, Ma'am!" Kopfschüttelnd trat Mama zurück und ging wieder nach unten.
Zuerst hatte ich gehofft, mein Vater könnte mich nach Riesenbeck fahren, aber dieser dachte gar nicht daran, den Kaffee auszutrinken und von seiner Zeitung aufzusehen. Heute war Donnerstagnachmittag, der einzige Halbtag der Woche, an dem er frei hatte, Notfalldienst eingeschlossen. Er würde sich sicher nicht einmal vom Sofa erheben. Niemand nahm ihm seinen heiligen freien Nachmittag.
Also stiess ich ihn, nachdem ich dreimal abgeblockt war, murrend von der Seite an und joggte zur Haustür, um mein Fahrrad zu holen. „Ich hasse dich, Paps!", jammerte ich, als ich die Tür öffnete, „Kuck doch mal, wie es draussen schüttet!"
„Es sind nur Wolken, Schatz. Nicht einmal graue Wolken und geregnet hat es seit Tagen nicht mehr. Also geh schon und stell dich nicht so an!" Ich schnitt eine Grimasse, verliess dann aber ohne ein weiteres Wort das Haus. Er würde sich sowieso nicht umstimmen lassen.
Mit Blick auf die Uhr eilte ich zur Garage und holte mein Fahrrad raus. Es war schon viertel vor vier und ich sass noch nicht mal auf dem Rad. Bis nach Riesenbeck hätte ich wahrscheinlich gut zehn Minuten, mit Verkehr zwölf. Also strampelte ich sofort kräftig los, als ich es auf den Sattel geschafft hatte.

Ich schaffte den Weg in elf Minuten. Ludger kam gerade vom Wohnhaus her angeschlendert, als ich mit dem Fahrrad völlig ausser Puste auf den Innenhof fuhr. „Guten Tag, Joelle!", rief er mir zu und hob die Hand zum Gruss. Ich stieg ab und stellte das Rad auf den Rasen. Wenn sich jemand daran störte, konnte er es ja wegstellen.
„Guten Tag, Herr...äh...Ludger", schnaufte ich. Es kam mir falsch vor, den vierfachen Olympiasieger einfach so zu duzen. Es fühlte sich nicht richtig an, als wäre etwas verkehrt. Ich sollte ihn im Fernsehen sehen, unerreichbar, nicht mit ihm per Du sein.
„Wollen wir gleich bei Zidane vorbeischauen? Ich hatte vor, ihn einfach in die Führanlage zu stellen. Ab Morgen darf er ja dann wieder leicht geritten werden", schlug er vor. Ich nickte und folgte ihm. Den Weg zu den Stallungen, die für die Sportpferde vorgesehen waren, kannte ich schon langsam.
Als wir die Tür zum grossen, hellen Gebäude öffneten, wieherten uns mehrere Pferde entgegen. Aus Box 7 sah mir ein vertrautes Gesicht entgegen. Zidane erblickte uns, streckte den Kopf weit über die Boxentür und wieherte ebenfalls, jedoch nur leise. Aus der Tasche meiner Jacke zog ich ein Leckerli hervor. Beim braunen Wallach angekommen, steckte ich es ihm heimlich zu, während dem Ludger das grüne Halfter mit dem Logo der LB Stables nahm. „Pst, das verrätst du nicht!", flüsterte ich und kraulte Zidane die weichen Nüstern.
„So, nehmen wir dich mal raus, Junge!", murmelte Ludger und streifte dem braunen Wallach gekonnt das Halfter über.
Zidane in die Führanlage zu bekommen, war etwas schwieriger. Das Pferd schien das grosse, hölzern metallene Ding nicht zu mögen und begann schon beim Anblick davon, mit dem Kopf zu schlagen und zu schnauben. Ich war froh, dass Ludger den Braunen führte, und nicht ich. Im Moment führte sich Zidane nicht mehr so lieb und entspannt auf, wie ich ihn beim Vorreiten kennengelernt hatte, sondern eher so, als würde er jeden Moment scheuen. Und er hatte nur ein gewöhnliches Halfter an, Ludger hätte ihm nichts entgegenzusetzen, wenn er durchgehen wollte.
Doch nachdem der Springreiter ihn zweimal um die Anlage herumgeführt hatte, war der Braune wesentlich ruhiger und liess schliesslich mit geblähten Nüstern zu, dass man ihn reintat. „Warte kurz hier bei ihm, er macht dort drin keinen Schritt vorwärts, wenn er alleine laufen muss. Ich hole schnell Concordis, dann können wir die beiden hier lassen!", ordnete Ludger an und gab Zidane einen leichten Klaps auf den Rücken.
Der Braune spitzte die Ohren und scharrte mit dem linken Vorderhuf in den Hobelspänen, die als weicher Untergrund für die Führanlage dienten. Von blossem Auge konnte ich keine Schwellung mehr am Röhrbein erkennen und vorher beim Führen war er auch nicht mehr kürzer getreten. Es schien ganz so, als hätte der kleine Unfall am Samstag keine schlimmeren Auswirkungen gehabt.

Während Ludger losjoggte, um das freche Rapppony zu holen, lehnte ich mich gegen die Aussenwand der Führanlage und streckte meine Hand durch. Zidane stupste sie erst mit dem Maul an und begann dann, mit seiner Oberlippe daran zu spielen. Lachend spielte ich mit. „Du bist schon ein Süsser, du!", grinste ich und sah dem Warmblut in die grossen Augen.
Keine zwei Minuten später kam Ludger mit Concordis, welcher nach wie vor sein beleidigtes Gesicht aufgesetzt hatte. „Ihr könnt mich alle mal!", schien er sagen zu wollen, als Ludger ihn ins Abteil vor Zidane steckte und die Führanlage anschaltete. Der Springreiter schüttelte den Kopf und rief dem Pony zu, es solle die Ohren wieder nach vorne nehmen. Dann wandte er sich an mich.
„Ich verlange nicht von dir, dass du jetzt zwanzig Minuten hier stehen bleibst, bis er fertig ist. Deshalb habe ich Eoin gesagt, er soll die beiden nachher rausholen. Wenn du schon hier bist, würde es dir vielleicht gefallen, dich schon mal an das Feeling zu gewöhnen, hier zu trainieren." Meine Augen wurden riesig. „Ernsthaft jetzt? Ich darf..." Meine Stimme stockte, aus Angst, er hätte nicht das gemeint und ich würde mich zum Affen machen. Aber ich hatte seine Aussage richtig gedeutet.
„Ja, du darfst reiten. Ich kann dich schlecht herkommen lassen, um mir zuzuschauen, wie ich ein Pferd in eine Führanlage stelle. Und da ich dich nie habe reiten sehen, kann ich mir selbst besser ein Bild davon machen, was mich erwartet!", erklärte der Springreiter.
Das machte mich etwas unruhig. Aha, es ging also darum, zu sehen, ob er einen Fehler gemacht hatte, als er sich entschied, mich aufzunehmen. Meine Freude verflog etwas und wich Nervosität, aber ich redete mir ein, dass er mich jetzt wohl nicht mehr rausschmeissen würde, selbst wenn ich ein paar kleine Fehler machte. „Auf was für einem Pferd denn?", bohrte ich nach.
Ludger schmunzelte und ging mit mir zurück zu den Stallungen. „Auf dem Pferd, das ich für die Trainings für dich vorgesehen habe", verkündete er.
Das versetzte mir einen Stich. Eigentlich hatte ich gehofft, Zidane reiten zu dürfen. Der kleine Wallach war mich durchaus sympathisch, und es war nicht einfach, Sportpferde auf diesem Niveau sympathisch zu finden. Wie schon gesagt, viele kannten nur die Befehle, die man ihnen gab, und die Hindernisse, über die sie sprangen.
Ich warf einen wehmütigen Blick zurück zu Zidane, welcher mit schaukelndem Kopf im Kreis trottete. Ludger schien ihn zu bemerken, weshalb er lachend hinzufügte: „Natürlich neben diesem Racker dort, sobald er wieder springen darf. Ich trenne nur ungern Teams, die sich beim Vorreiten bewährt zu haben scheinen. Genau deshalb wird Sereina Pignatelli nie wieder auch nur einen Fuss in den Steigbügel dieses Pferdes stellen."
Innerlich atmete ich auf und ging automatisch etwas beschwingter. Wenn jetzt dieses ominöse zweite Pferd noch in Ordnung war, dann konnte ich mit voller Motivation in meine Karriere als Nachwuchsreiterin bei Ludger Beerbaum starten.

In der Stallgasse wurden wir diesmal nicht mehr von Gewieher empfangen, da bereits jemand anderes dort war und in der zweitvordersten Box einen Dunkelbraunen absattelte. Den jungen Mann erkannte ich als Eoin McMahon, der, von dem Ludger vorhin schon gesprochen hatte.
„Hallo, Eoin!", begrüsste der Springreiter seinen Schützling. Dieser winkte zuerst ihm und dann etwas verwirrt und schüchtern auch mir. Ebenso zurückhaltend hob ich ebenfalls meine Hand.
Wir gingen an der Box von Zidane vorbei und noch etwas weiter nach hinten, bis zum Knick, den die Stallungen machten. „Voila, hier ist sie!", grinste Ludger stolz und zeigte auf das Pferd, welches in der geräumigen Box stand.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt