In der Höhle des Löwen

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Draussen begrüsste mich Vogelgezwitscher und Sonnenschein. Zidane spitzte die Ohren und schnaubte, liess sich jedoch weiter brav von mir in Richtung des Platzes führen. Meine Sorge, ihn nicht zu finden, war komplett unbegründet - er war wirklich nicht zu übersehen. Weisse Holzzäune, die im hellen Licht leuchteten, umgaben ihn und er war so gigantischen Ausmasses, dass man hätte internationale Springturniere auf ihm durchführen können.
Gut fünf oder sechs Reiter ritten ihre Pferde schon im Schritt um den Sandplatz, welcher durch ein Band in zwei Teile geteilt worden war. Hastig griff ich nach dem Blatt, welches mir Frau Roth gegeben hatte. Darauf, zwischen den Falten, die bereits auf dem Papier zu sehen waren, stand, dass ich in der oberen Hälfte war. Zügiger gehend stopfte ich mir das Blatt wieder in die Jackentasche, woraufhin Zidane neugierig daran schnupperte und beinahe stolperte. „Lass das!", flüsterte ich ihm belustigt aber gestresst zu.
Während dem ich die letzten Schritte zum Eingang des Platzes ging, liess ich meine Augen über die bereits anwesenden Reiter schweifen. Ich kannte keinen davon und alle wirkten hochkonzentriert, total in das versunken, was sie taten. Es war auch noch niemand von den LB Stables hier – kein Ludger, keine Linda Vermeulen, kein niemand. Das war gut. Dafür waren Hindernisse aufgebaut. Hohe Hindernisse. Die meisten etwas mehr als einen Meter, hätte ich gesagt. Also nicht wirklich hoch, aber doch so, dass es einem Mädchen, das so lange nicht mehr gesprungen war, den Puls hochtrieb. Scheisse, ich war doch schon viel höher gesprungen. Warum liess ich mich also dadurch so beunruhigen?
Auf meiner Lippe herumkauend betrat ich den Platz und bahnte mir einen Weg durch die Reiter. Ich war hier in der Höhle des Löwen, oder fühlte mich zumindest so. Alles und jeder war Konkurrenz. Konkurrenz, die mir überlegen war. Aus alter Gewohnheit würde ich zuerst mit Zidane eine Runde um den Platz laufen und erst dann aufsteigen. Ich hatte es bis jetzt immer so gemacht. Jetzt half es mehr mir als Zidane. Ich musste mich beruhigen, bevor ich aufsass, sonst kam das nicht gut.
Nach einer Viertelrunde begannen beide Ellbogen zu fiepen und ich hoffte innerlich, dass es sich wieder legen würde, bis ich losreiten musste. Die Richter würden freihändiges Reiten nicht mit Pluspunkten bewerten, dessen war ich mir fast sicher.
Plötzlich hörte ich meinen Namen. Verwirrt suchte ich mein Blickfeld ab und sah dann Charlotte, die auf der anderen Platzhälfte gerade auf mich zugeritten kam. Sie sass auf einem schwarzen Pony – Concordis Z, falls ich mich richtig erinnerte – und machte eine tolle Figur, obwohl Concordis ein Gesicht machte, als hätte ihm ein Riesenvogel draufgeschissen. Im übertragenen und im wörtlichen Sinn. Das Pony hatte die Ohren angelegt und die Augen zugekniffen, und auf seinem gesamten Nasenbein prangte eine Laterne; die breiteste Blesse, die ich je gesehen hatte. Nicht ein besonders schöner Anblick.
Charlotte wirkte auch ein wenig unzufrieden, versuchte jedoch, mich anzustrahlen. „Deiner sieht aber schick aus! Wenn man davon absieht, dass er recht klein ist...", bewertete sie Zidane mit einem Hauch von Eifersucht. Ich zog eine Grimasse. „Meinst du? Deiner ist ein Stück kleiner! Und meinen würdest du auf einer Weide voller Pferde gar nicht wiedererkennen!" Charlotte grinste. „Ach komm! Weisst du was, ich schiesse ein Foto! Damit du eine Erinnerung daran hast, auf welchem Pferd du gesessen bist, als ich dir den Trainingsplatz weggeritten habe!", witzelte sie. Kurz war ich beleidigt, erinnerte mich dann aber daran, dass sie es neckend gemeint hatte. Und gleichzeitig daran, dass sie vielleicht recht behalten könnte.
Während dem sie ihr Handy bereitmachte, versuchte ich, mich in eine einigermassen gute Position zu bringen. Zidane machte mir einen Strich durch die Rechnung. In dem Moment, als Charlotte den Auslöser betätigte, machte er zwei Schritte nach vorne und schubste mich mit seinem Kopf. Lachend verstaute das blonde Mädchen ihr Handy wieder in ihrer Tasche. „Das war ein richtiger Schnappschuss!", meinte sie. Dann zeigte sie mir, dass sie mir beide Daumen drückte und lenkte Concordis wieder weg vom Band. Zögernd machte ich den Mund auf, um ihr hinterherzurufen, dass sie doch noch ein zweites Foto machen könnte, liess es dann aber sein.
Hastig beendete ich stattdessen meine Gehrunde und führte Zidane dann in die Mitte des Platzes, um aufzusitzen. Der Braune blieb brav stehen, während dem ich nachgurtete und die Steigbügel einstellte. Dann stellte ich den linken Fuss hinein, fasste die Zügel und den Vorderzwiesel mit der einen, den Hinterzwiesel mit der anderen Hand und zog mich hoch. Noch während dem ich absass, lief Zidane schon los, weshalb ich mich etwas ungeschickt in den Sattel plumpsen liess. Schnell sah ich mich um, in der Hoffnung, dass niemand es mitbekommen hatte. Nein, niemand sah her. Erleichtert fasste ich die Zügel kürzer und drückte in den Steigbügeln die Fersen nach unten, woraufhin Zidane schneller ging.
Ich ritt ihn einige Male im Schritt zwischen den Hindernissen hindurch und wollte gerade kurz antraben, als eine Person den Platz betrat. Mir stockte der Atem. War das Philipp Weishaupt? Sein Gesicht kam mir unglaublich bekannt vor. Ja, es war Philipp Weishaupt, ich war mir sicher. „Guten Morgen, meine Herrschaften!", begrüsste er uns und winkte uns zu sich heran. Zögerlich ritt ich auf den Springreiter zu und versuchte, möglichst viel Abstand zwischen mir und andern Pferden zu lassen. „Der werte Herr Beerbaum ist im Moment leider verhindert, deshalb übernehme ich das Vorreiten hier. Er wird vielleicht gegen Ende noch zu uns stossen. Seid aber versichert, dass er von mir genau erfahren wird, wie jeder einzelne von euch sich hier bewährt hat! Zum Ablauf. Da Trainingsplätze fürs Springreiten vergeben werden, werde ich vor allem das bewerten. Jeder von euch wird in der Reihenfolge eurer Nummern ein Hindernis aussuchen, das er einzeln zweimal überspringt. Danach möchte ich noch den Parcours sehen und dann könnt ihr auch schon gehen! Wenn ihr fertig seid, dürft ihr eure Pferde wieder versorgen und auf den Hof gehen, ab halb zehn gibt es dort Verpflegung", erklärte Philipp. Dann schilderte er uns den zu überwindenden Parcours.
Er schien nicht so schwierig zu sein, lediglich fünf Hindernisse in simpler Reihenfolge. Keine Herausforderung für jemanden, der im Springen Routine hatte. Das galt nicht für mich. Ich begann schon zu schwitzen, als ich die ersten beiden Reiter sah. Beides Jungs. Sie absolvierten die Aufgaben tadellos und ohne mit der Wimper zu zucken. Die Nächste war ein Mädchen, bei der zweimal die Stangen klapperten. Über dem letzten Hindernis verlor sie einen Steigbügel und konnte deshalb die Volte nicht schön ausreiten. Ich registrierte, wie Philipp missbilligend die Nase rümpfte. Und dann war auch schon ich dran.
Mein Atem ging schneller und ich musste kurz die Augen schliessen, weil mein rechter Arm krampfte, als hätte er gerade einen Schlag mit einem Baseballschläger abbekommen. Aber ich wusste, dass ich jetzt durchziehen musste und nicht absagen konnte. Dann konnte ich den Trainingsplatz vergessen. Nach kurzem Zögern entschied ich mich für einen niedrigeren Oxer am vorderen Rand des Platzes. Ich galoppierte Zidane flüssig aus dem Stand an – bei den andern drei Teilnehmern hatte ich ihn ein wenig auf den Volten traben lassen, wodurch er jetzt schon aufgewärmt war – und lächelte, als ich merkte, wie Philipp anerkennend nickte.
Nach den ersten drei Galoppsprüngen merkte ich, dass ich in den leichten Sitz übergehen musste, da Zidanes Galopp so holprig war, dass ich riskierte, die Steigbügel zu verlieren, wenn ich länger sitzen blieb. Der kleine Wallach grunzte kurz und hob die Hinterhand zu einem kleinen Bocksprung, der mich für einen Moment aus der Fassung brachte, danach benahm er sich aber.
Zuerst machte ich eine grosszügige Kurve, um den Anreitweg zu verlängern und gleichzeitig Zeit zu schinden. Dann richtete ich Zidane gerade auf den Sprung und setzte mich wieder in den Sattel. Der Braune unter mir legte etwas an Tempo zu. Das Hindernis kam näher und näher. In mir drin zog sich alles zusammen, gleichzeitig vor Angst und vor Vorfreude. Das würde mein erster Sprung seit zwei Jahren sein. Der erste Sprung. Und wenn ich ihn vermasselte, wäre es auch einer meiner letzten.
Plötzlich fühlte ich nichts mehr. Keine Angst mehr. Keine Anspannung mehr. Keine Nervosität mehr. Ich sah nur noch. Sah den Oxer. Weiss-rote Stangen. Noch zwei Galoppsprünge. Noch einer. Zidane hob ab und ich hievte meinen Körper in den Sprungsitz, schob die Hände nach vorne und drückte die Fersen runter. Die Landung registrierte ich nicht einmal. Mein Bewusstsein setzte irgendwo, mehrere Galoppsprünge nach dem Hindernis, wieder ein. Ich war gesprungen. Ich war gerade gesprungen, wirklich gesprungen! Das Glücksgefühl war überwältigend. So überwältigend, dass ich anhalten und schreien wollte, aber ich wusste, dass ich das nicht durfte. Also parierte ich zum Schritt durch und lobte Zidane strahlend.
Nachdem ich zwei Schrittvolten geritten war und den Oxer erneut übersprungen hatte, machte ich mich an den Parcours. Und er war auf einmal wirklich nicht so schwierig. Das Glücksgefühl in meinem Bauch hielt an und schien mich über die Hindernisse zu tragen. Zidane arbeitete toll mit und korrigierte die eine oder andere Unsicherheit von meiner Seite, sodass wir fehlerfrei über die fünf Sprünge kamen. Ich war mehr als zufrieden mit dem Braunen und froh stellte ich fest, dass auch Philipp Weishaupt gar nicht so enttäuscht aussah, sondern sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck Notizen machte.
Schwungvoll stieg ich ab. Und dann passierte es. Es überkam mich wie eine Welle, ohne Vorwarnung. Plötzlich summte um mich herum alles, Punkte erschienen vor meinen Augen und von einem Moment auf den andern stand mein Körper in Flammen. Mit stierem Gesichtsausdruck legte ich Zidanes Zügel über einen Pfosten und eilte so schnell ich konnte vom Platz in Richtung der Stallungen. Wenn jemand nach mir gerufen hätte, hätte ich es nicht gehört, denn meine Ohren fühlten sich an wie mit Watte zugestopft. Meine Sicht trübte sich immer weiter und die Wellen überspülten alles in mir drin. Jede einzelne Faser brannte und krampfte. Halb blind stolperte ich über den gepflasterten Weg, durch das geöffnete Tor, in die Sattelkammer hinein und schlug die Tür hinter mir zu. Und dort sackte ich auf dem Boden zusammen. Ich konnte gar nicht anders, als einfach niederzusinken.
Alles drehte sich, drehte sich sogar noch weiter, als ich schon auf den kalten Platten sass. Mir entfuhr ein Stöhnen als das Überbleibsel des Schreis, den ich mit zusammengebissenen Zähnen zurückhalten musste. Rhythmisch, im Sekundentakt, schienen meine Gliedmassen zu explodieren. Immer wieder. Zack, zack, zack. Hätte ich nicht aus Erfahrung gewusst, dass es nicht so war, hätte ich geglaubt, meine Finger, jeden einzelnen meiner Finger, brechen zu spüren. Vorne am Fingernagel, an den Gelenken, in der Mitte der Knochen. Einfach überall. Meine Lungen brannten wie Feuer, machten mir das Atmen schwerer und schwerer. Ich japste, wollte nach etwas greifen, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Dafür verkrampfte sich mein gesamter Oberkörper, meine Beine zogen sich an, meine Hände krümmten sich zu Krallen, mein Gesicht wurde taub. Und dann war es plötzlich vorbei.
So schnell, wie der Anfall gekommen war, war er auch wieder zu Ende. Immer noch schnaufend liess ich meinen Kopf nach hinten gegen einen Sattelständer sinken und registrierte das Klopfen an der Tür. „Joelle? Bist du da drin?", fragte eine Männerstimme. Oh Gott, bitte nicht. So schnell es ging, rappelte ich mich hoch und wischte mir den Staub von den Kleidern. Dann streckte ich mich durch, um die letzten Nachzügler der Krämpfe zu vertreiben und ging zur Tür. Zögerlich öffnete ich sie und blickte Ludger Beerbaum direkt ins Gesicht. Der Springreiter sah mir mit eigenartigem Gesichtsausdruck entgegen, die silbernen Augenbrauen eng zusammengezogen. „Alles in Ordnung? Ich hab dich nur noch hier reinrennen sehen...", fragte er unsicher.
Stotternd erwiderte ich: „Ja, geht schon wieder." Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit sagen wollte. Reimte in meinem Kopf bereits die Formulierungen zusammen. Nach den zahlreichen Malen hatte ich allmählich meine Floskeln entwickelt. Es ist nicht so schlimm, wie es klingt sagte ich oft, und meinte es nicht so. Es war tausendmal schlimmer, als es klang. Aber das hörten die Leute nicht so gerne. Ich entschied mich dazu, es ihm nicht zu erzählen. Wenn ich zumindest die geringste Chance auf den Trainingsplatz haben wollte, musste ich ihm nicht den kleinsten Grund zum Zweifeln geben. Zweifeln an meinem Können, Zweifeln an meiner Motivation, Zweifeln an meiner Zurechnungsfähigkeit.
„Mir war nur kurz übel. Ich habe heute noch nichts gegessen, weil ich zu aufgeregt war. War wohl nicht so eine gute Idee", log ich und versuchte dabei möglichst überzeugt zu klingen. Ludger schien mir die Geschichte wirklich abzukaufen. „Das ist wirklich nicht gut. Als Sportler muss man immer genug zu sich nehmen, um seine Energiereserven gefüllt zu haben. Auf dem Innenhof gibt es Verpflegung, ich begleite dich dorthin." Blinzelnd schüttelte ich den Kopf. „Nein, Sie sollten sich das Vorreiten ansehen. Schliesslich müssen Sie dann die Reiter auswählen", lehnte ich ab. Der Springreiter schien von meinen Worten tatsächlich überrascht zu sein und erwiderte: „Ganz sicher nicht! Du warst vorher totenbleich. Ich komme mit, Hot-Dog-Mädchen. Wenn du ein Sandwich und eine Cola genommen und dich gesetzt hast, kann ich wieder gehen, aber vorher begleite ich dich." Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Hot-Dog-Mädchen. Wie lange würde er sich noch an diesen bescheuerten Namen erinnern? Und während dem ich Ludger nach draussen folgte, realisierte ich, was da gerade von statten ging - ich hatte irgendwie, mit einem unvorsichtigen Gang zur Toilette und einem peinlichen Zusammenstoss, die Gunst meines grössten Vorbildes erlangt.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt