Da kroch der Verlierer

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Das Krankenhausbett. Das war das Erste, woran ich mich wieder erinnern konnte. Alles davor, bis zu dem Punkt, an dem ich auf dem Sandboden des Springplatzes gelegen hatte, verschwand in dichtem Nebel, der sich nicht lichten wollte.

Die Ärzte des Klinikums Herford meinten, ich hätte enormes Glück gehabt. Ich hätte mir den Schädel oder das Rückgrat brechen können, aber nichts davon war eingetreten. Ich hätte mir nur eine leichte Stauchung des Schultergelenks und einige Prellungen zugezogen, dazu eine Gehirnerschütterung. Nichts Wildes. Also kein Gips, keine Schienen, keine Operation.

Stattdessen lag ich hier, an einem Tropf mit Schmerzmitteln hängend. Nachdem ich wieder einigermassen hatte sprechen können, hatte ich den Sanitätern sofort erklärt, was Sache war. Die hatten so schnell reagiert, wie sie eben konnten. Jetzt bekam ich etwas Stärkeres als Gabapentin, denn das hatte ja offensichtlich schon zum zweiten Mal nicht angeschlagen.

Aber das Schlimmste war für mich im Moment nicht der Schmerz, sondern die Tatsache, dass mein Geheimnis jetzt so offen auf dem Tisch lag. Es war nicht länger ein Geheimnis. Ich hatte das Spiel verloren.

Meine Hände lagen verkrampft in meinem Schoss und spielten nervös mit dem dünnen Schlauch, durch welchen eine klare Lösung in meinen Körper tröpfelte. Die leichte Decke, die über meine Beine gelegt worden war, verbarg kaum mein Zittern und ich wusste nicht, wohin ich kucken sollte.

Als ich meine Augen durch das Zimmer schweifen liess, vermied ich es, Ludger anzusehen. Seit die Ärzte die Türen meines Zimmers vor wenigen Minuten für Besucher geöffnet hatten, sass er hier und suchte offensichtlich nach den richtigen Worten.

Ich spürte seinen Blick, als ich die in einem verzweifelten Versuch, diesen Ort fröhlicher aussehen zu lassen, mit grünen Mustern bemalte Wand fixierte. Ich spürte seinen Blick, als ich weiter über die Wand zum Fenster wanderte und einen Wolkenfetzen am Himmel verfolgte. Ich wusste, was er wollte. Er wollte die Wahrheit. Die Wahrheit, die ich ihm von Anfang an verwehrt hatte, um mich selbst zu schützen.

Neben mir hörte ich ihn tief einatmen. Der Monitor piepste leise. „Erzähl mir alles. Die ganze Geschichte, Joelle", sagte er, seinen Blick weiter in meinen ihm abgewendeten Hinterkopf gebohrt. Seine Stimme klang gepresst, als würde unterdrückte Wut gegen seine Kehle hämmern.

Meine Hände liessen den Schlauch los und ich schlug die Augen nieder. Jetzt musste ich wohl oder übel reden. Jetzt konnte ich keine Ausreden mehr erfinden, konnte nicht weglaufen, mich nicht verstecken. Ich fühlte mich wie ein Reh, dessen Fuss in einer Falle gefangen war. Der Jäger kam näher, hatte das Gewehr schon gezückt. Ich sah ihn kommen, wie er den Lauf auf mich richtete und zielte. Bald würde er abdrücken und ich hätte keine Möglichkeit, es zu verhindern.

„Nun ja, es...ist eine lange Geschichte", murmelte ich niedergeschlagen. Ludger seufzte. Ich wagte es, ihn anzusehen und beobachtete, wie er sich an der Stirn kratzte. „Ich will sie hören. Alles. Und diesmal keine Lügen mehr." Er klang müde, furchtbar müde und abgeschlagen. In seinen Worten schwang unverkennbar eine gewisse Genervtheit mit - er hatte keine Geduld mehr. Er wollte es jetzt hören.

Nervös knabberte ich an meiner Unterlippe herum. „Was hat Linda dir erzählt?", fragte ich leise. Ludger warf die Arme in die Luft und rief laut aus: „Nichts! Das ist es ja, nichts! Und ich will es ehrlich gesagt auch von dir hören!"

Ich zuckte erschrocken zusammen und schlug den Blick wieder nieder. „Komm schon, fang einfach an!", redete ich mir innerlich zu. Aber wo sollte ich bloss anfangen? Wie würde ich ihn nicht noch wütender machen? Ich atmete tief ein.

„Also", begann ich, „vor zwei Jahren, da hatte ich einen Unfall mit einem Pferd. Bei Linda. Es hat mir beim Führen den Ellbogen ausgekugelt. So etwas dauert eigentlich nicht allzu lange, um zu verheilen, aber bei mir hat es einfach nicht aufgehört, wehzutun. Als es immer schlimmer geworden ist und sich auch auf andere Körperteile ausgeweitet hat, wussten wir, dass etwas nicht stimmt. Nach einer Skelettszintigraphie hat man dann herausgefunden, dass die Verletzung bei mir CRPS ausgelöst hat. Deshalb musste ich aufhören, bei Linda zu reiten und hatte danach bis zu dir keine Möglichkeit mehr, zu springen."

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt