Frust

1.4K 97 5
                                    

Mein Vater war mindestens so traurig gewesen wie ich, als ich am Tisch erzählte, dass man mich nicht in die nächste Runde aufgenommen hatte. Als ich weinend in seine Arme gefallen war, hatte Mama jedoch nur danebengesessen und mit aufeinandergepressten Lippen ihr Gulasch im Teller herumgeschoben. Ich hatte nicht sagen können, ob sie mit mir mitgefühlt hatte, oder ob sie froh gewesen war, denn aus ihrer eingefrorenen Miene war nichts herauszulesen gewesen. Absolut nichts.

Am nächsten Tag ging es mir so schlecht, dass ich es nicht schaffte, am Morgen aus dem Bett zu kommen und mich krankmelden musste. Meine Mutter bemerkte es ohne Worte und rief für mich in der Schule an. Es war möglich, dass sie froh war, aber sie wusste auch, wie sehr mir das ganze am Herzen gelegen hatte.
Ja, ich war unglaublich nervös gewesen, und ja, ich hatte gezweifelt, aber es war mein Traum gewesen, für den ich hatte kämpfen wollen. Es war der letzte verzweifelte Versuch gewesen, den ich unternommen hatte, und es hatte nicht geklappt. Jetzt war es vorbei. Ich konnte es vergessen, je wieder mit dem Springreiten anzufangen. Nicht in dem Zustand, und nicht, wenn ich derart ausser Übung war. Ja, es war vorbei. Meine Zukunft würde darin bestehen, weiterhin wöchentlich zu Toby nach Dörenthe zu fahren und bis an mein Lebensende nur noch dicke, faule Ponys zu reiten. Damit musste ich mich wohl abfinden, auch wenn ich es nicht wollte und allein der Gedanke daran mir jedes Mal wieder die Tränen in die Augen trieb.
Den ganzen Donnerstag verbrachte ich so im Bett, Schmerzen im ganzen Körper und den Kopf voller Überlegungen, eine frustrierender als die andere. So schlecht war es mir zuletzt gegangen, als ich realisiert hatte, was für einen grausamen Fehler ich begangen hatte, indem ich jeglichen Kontakt zum Reitsportzentrum Vermeulen und der Besitzerin Linda gekappt hatte. Dieser Fehler war die Granate gewesen, die die Brücke zum Springsport für mich in die Luft gejagt hatte, während dem ich dem sicheren Ufer den Rücken zukehrte. „Ich kann wieder damit anfangen, wenn ich gesund bin", hatte ich mir gedacht, als ich den Zündknopf drückte. Wenn ich gesund bin.
Meine schlechte Phase dauerte mehrere Tage an. In die Schule konnte ich nur mit einer Krücke, die ich unter die Achseln klemmen konnte, weil ich weder in der Lage war, alleine zu laufen, noch mich richtig abzustützen. Die seltsamen oder mitleidigen Blicke meiner Mitschüler nervten mich, weshalb ich mich mit kaum jemandem unterhielt und einfach nur die Lektionen absass.
Alma liess mir Freiraum und Charlotte verstand auch, dass ich gerade einfach niemanden sehen wollte. Als sie mich fragte, wofür die Krücke sei, antwortete ich, dass ich die Treppe runtergefallen war und mir den Fuss verstaucht hatte. Gerade wegen dieser Lüge wollte ich Charlotte nicht sehen. Ich wollte ihr nicht erklären müssen, was wirklich mit mir los war, auch wenn es jetzt keine Rolle mehr spielen würde. Ich musste keinen Schein mehr wahren, jetzt, da die Hoffnungen auf den Trainingsplatz sowieso zerstört waren. Dennoch war es mir unangenehm, dass sie eventuell hinter meinen Schwindel kommen würde. Genug Leute behandelten mich wie ein rohes Ei. Da brauchte ich nicht noch jemand Neues.

Reiten konnte ich in diesem Zustand auch nicht. Obwohl es wahrscheinlich eher ein nicht wollen als nicht können war. Am Samstag zog ich trotzdem meine Reitkleider an und schleppte mich mit der Krücke von der Bushaltestelle bis zu dem kleinen privaten Offenstall, in dem Toby mit Samson stand. Der Haflinger wieherte mir zu, aber Toby stand nur dort und hob den Schweif zum Kacken.
„Hallo, Joelle! Ich habe schon mal gemistet, wenn du willst, kann ich dir nachher beim Putzen helfen!", begrüsste mich Andrea. Genau deshalb mochte ich sie. Kein Mitleid, keine Fragen. Die Mittvierzigerin kam mit der Mistkarre auf mich zu, die kurzen karmesinroten Haare unter einer Mütze. Nur noch der Teil ihrer Frisur, der mich immer ein wenig an ein Einhorn erinnerte, lugte unter der Mütze hervor und hing ihr ein bisschen über die Stirn.
„Danke! Ich longier' den Fettsack nur ein wenig, bei der Bodenarbeit macht er sowieso, was er will", erwiderte ich heiser und humpelte schon mal voraus zum Tor. Andrea warf den Mist auf den Miststock und folgte mir dann. „Wenn du Bodenarbeit machen willst, kannst du auch Samson nehmen. Der macht gut mit", schlug Andrea schulterzuckend vor.
Ohne nachzudenken schüttelte ich den Kopf. „Ne, schon gut. Ich nehm' Toby." Das war eine Frage der Treue: Ich hasste den Tinker zwar, aber irgendwie war er trotzdem mein Pony geworden. Mein widerborstiges, verachtenswertes Pony, das ich nie gemocht hatte, mit dem ich aber dennoch arbeitete. Vielleicht war das ja doch nicht so schlimm. Vielleicht war das ganz gut so.
Ich schniefte leise und öffnete das Tor. Samson trottete auf mich zu, Toby ignorierte mich nach wie vor. „Hey, du dickes Schwein!", rief ich und pfiff, damit er wusste, dass ich kam. Sein Kopf drehte sich zu mir herum, dann wieder weg. Furzend trabte der Schecke weg, als wollte er mich hänseln.
„Haha, sehr witzig!", knurrte ich, schnappte mir einen Strick und schlurfte hinter Toby her. Ich brauchte gute fünf Minuten, bis ich ihn eingefangen hatte und mit ihm im Schlepptau den Putzplatz erreichte. Andrea wartete schon mit einer Putzkiste und begann, dem Tinker die von Behang nur so zugedeckten Hufe auszukratzen. Gleichzeitig nahm ich einen Striegel und versuchte, den eingetrockneten Dreck aus dem Fell zu kriegen.
Nachdem ich Toby zwanzig Minuten longiert hatte, konnte das Pony nicht mehr und wurde von mir schweissüberströmt entlassen. „So, hau ab, Dicker!", murrte ich und gab ihm den üblichen Klaps auf den Hintern. Toby legte die Ohren an und schlurfte weg von mir. Kopfschüttelnd verliess ich den Stall und verabschiedete mich von Andrea, die gerade Samsons Mähne flocht. „Mach's gut und meld' dich wieder, wenn's dir besser geht!", rief sie mir hinterher und winkte.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt