(Rachels Sicht)
Mühsam hievte Rachel den grausilbernen Koffer Mr. Wilston entgegen. "Ich mache das schon Mylady", sagte ein Bootsmann und nahm mit Leichtigkeit die Last aus der Hand der Herzogstochter und überbrückte schwungvoll den halben Meter, der Rachel bis zu Mr. Wilstons Hand gefehlt hatte. Zwar nickte sie ihm dankend zu und war auch froh über die Hilfe, jedoch ärgerte sich das Mädchen, dass anscheinend selbst jeder Bootsmann wusste, dass sie kein normaler Fahrgast war, sondern eine aus dem Adel.
Wie das schon klang! Rachel schüttelte sie leicht und ärgerte sich wieder einmal, dass sie kein normales Mädchen war. An manchen Tagen plagten sie solche Gedanken stark, doch heute fiel es ihr leicht, teilweise bedingt durch die Aufregung, an Anderes zu denken.Mit ihrem Blick verfolgte die junge Dame, wie ihr Begleiter den Koffer an sich nahm und beiseite trat, damit auch sie auf das Schiff steigen konnte. Das schmale Brett, dass zu überqueren war, hatte nicht genug Platz, sodass der Bootsmann, welcher den Passagieren mit Handgepäck und den Kindern half, auf dem Kopfsteinpflaster stehen musste. Hinter ihm hatte sich eine Schlange an Leuten aufgereiht. Ein jeder wartete geduldig, bis Rachel über das Brett balanciert war und man auf rutschen konnte.
"Erstes Hindernis geschafft", begrüßte sie Mr. Wilston und lächelte. Sie lächelte und streckte ihre Hand zu einem High-Five hoch, worauf der Mann sofort einschlug. Rachel hatte Mr. Wilston diese Geste beigebracht, was den beiden sehr viel Spaß bereitet hatte. Sie hatten ein lockeres Verhältnis zueinander, was auch dadurch begründet sein könnte, dass sie bei der Eistellung Mr. Wilstons erst fünf Jahre alt war und er für sie schon zum zu Hause dazu gehörte. Der Sekretär ihres Vaters saß häufiger zu Tea-Time im Kaminzimmer dabei, wie Rachel die Teerunde ihrer Mutter zu nennen pflegte.
"Und der Koffer wurde noch nicht geklaut", antwortete sie auf Wilstons Bemerkung hin. Dieser schmunzelte und drehte sich dann zur Treppe, wo ein Rotschopf in Uniform stand und versuchte, die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu ziehen. Inzwischen hatte sich die Schlange am Boden aufgelöst, da alle Gäste das Schiff betreten hatten. Einige Jungen und Männer liefen herum, welche Rachel als Schiffsjungen und Seemänner identifizieren konnte.***
Als der Rothaarige zu reden begann, schenkten beide ihm ihre volle Aufmerksamkeit. "Meine lieben Gäste, willkommen am Bord der Golden Eagle", er lächelte. "Mein Name ist Tucker und ich bin der Obersteuermann der Golden Eagle. Ich weise sie noch auf zwei wichtige Regeln hin, bevor ich ihnen eine gute Fahrt wünsche. Zum einen bitte ich, das Deck nur bei trockenem Wetter oder leichtem Regen zu betreten und ich weise darauf hin, dass die Dienstmädchen bei Fragen angesprochen werden sollen, da die Bootsmänner das Segelboot kontrollieren sollen.
Weiter hörte sie nicht zu, weil es viel interessanter war, den Schiffsmännern beim Segel setzen zuzusehen. Die junge Dame konnte beobachten, wie Befehle von einem Leutnant gerufen wurden, seine gelockert und das Schiff vom Pfeiler gelöst wurde. "Schauen wir unsere Zimmer an Rachel?", weckte sie Mr. Wilston aus ihren Gedanken. "Äh ja gerne, ich war grade ein wenig abwesend", entschuldigte sich Rachel. "Das habe ich aber gemerkt", erwiderte er, worauf sie ihn herausfordernd ansah.
"Na gut, gehen wir", löste er die Situation auf, woraufhin sie einen schnellen Schritt anschlug. "Rachel?", ihr Begleiter griff nach ihrem Arm und hielt die Herzogstochter an. sie sah ihn fragend an. "Was ist mit dem Koffer?" Siedend heiß fiel Rachel ein, dass dieser ja neben ihr gestanden hätte. Wenn ihr Vater hier gewesen wäre! Rachel hätte sich auf ein Donnerwetter gefasst machen können. Peinlich berührt griff sie nach dem nackten Metallgriff und folgte zügig ihrem Begleiter.
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Mein amerikanischer Gentleman
Historical FictionFrühling 1813, Großbrittanien, Sutherland. Die 18-jährige Britin Rachel Russell ist die Tochter des Herzogs von Sutherland. Da sie lieber in einfachen Verhältnissen leben möchte, verbringt Rachel auch in Zeiten des Kriegs viel Zeit im Dorf. Dort...