Kunstkenner

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(Rachels Sicht)

Nachdem sie eine windstille Ecke gefunden hatte, ließ sich Rachel auf dem Boden nieder und orientierte sich erstmal. Sie hatte sich auf die Sonnenseite des Decks gesetzt, weil sie den Sonnenuntergang malen wollte. In der Hoffnung, Meerestiere zu sehen ließ sie ihren Blick über die See wandern, die ruhig da lag. Das Deck hatte die junge Dame nicht mehr betreten, seit die Golden Eagle Brighton Marina verlassen hatte. Als Rachel die Suche nach Delfinen oder ähnlichem aufgegeben hatte machte sie sich daran, die Farbtuben auszupacken und Farbe auf ihre Palette zu spritzen.
Aus ihrer Perspektive am Boden sah die Herzogtochter, wenn sie sich umdrehte, die Masten in den Himmel ragen. Sie entschied sich, diese in den Sonnenuntergang zu integrieren. Lange und konzentriert arbeitete sie Pinselstrich für Pinselstrich an dem Kunstwerk. Doch irgendetwas fehlte noch. Unzufrieden über ihr können ergänzte sie einen kleinen Wal kurz vor dem Horizont. Wer weiß, vielleicht würde ja noch einer auftauen, dachte sie sich. 

Um sie herum waren inzwischen der Großteil der Leute verschwunden, die den Sonnenuntergang angesehen hatten. Ein alter Mann stand jedoch, an der dunklen Seite, Pfeife rauchend auf dem Deck und sah in den dunklen Ozean. Rachel konzentrierte sich wieder auf ihr Bild auf dem Block. Sie begann schon, ein wenig an dem Pinsel zu nagen, weil ihr nichts mehr einfiel, da hörte sie eine kratzige Stimme und nahm eine Gestalt war, die ihr den Blick versperrte.

Da es so dunkel war, konnte sie den Mann nicht genauer erkennen, der vor ihr stand. Doch nach wenigen Sekunden hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt und sie erkannte das freundliche, fast eckige Gesicht des Herren. "Das sieht aber gut aus, Miss. Sie haben gehörig Talent will ich meinen, hugh?" Bei dem letzten Wort ging der Mann so mit der Stimme hoch, dass Rachel unwillkürlich lachen musste. Ihr Gegenüber lächelte darauf hin zurück und ließ sich, mit höflichem Abstand neben Rachel nieder.

"Mit wem habe ich denn die Ehre, junge Lady?", sagte er schwungvoll und reckte Rachel seine Rechte entgegen. "Miss Rachel Russel, aus England", antwortete Rachel und schlug freudig ein. Sie mochte den Mann sofort. Er war nicht aufdringlich, aber doch direkt und freundlich.

***

"Und wer sind sie?", fügte sie hinzu, als sich ihre Hände berührten. "Kennet O'Connor, Miss Russel", sagte er. "Ich muss schon sagen, sie haben sich ein hübsches Plätzchen ausgesucht zum Malen. Und ihr Bild sieht sehr gelungen aus, es gefällt mir sehr", lobte Mr. O'Connor. Er trug einen Mittelscheitel und einen Bart auf seiner Oberlippe. Unter seinem braunen Mantel trug er einen Weiteren zugeknöpften, welcher einwandfrei zu dem schwarzen Zylinder passte, den er in der Hand hielt. Seine Augen blitzten angeregt, wenn er Rachel in die Augen sah. 

Die Herzogtochter war etwas verlegen wegen des Kompliments, dass O'Connor ihr gemacht hatte. "Äh danke", sagte sie und versuchte vom Thema abzulenken. "Was führt sie denn hier auf die Golden Eagle?", fragte sie den Mann. "Ach wissen sie Miss", setzte er an, "berufliche Gründe führen mich nach Orlando. Ich werde von dort aus den Zug nach Tallahassee nehmen, ich habe dort ein wichtiges Treffen mit meinem amerikanischen Geschäftspartner. Aber das ist auch nicht so interessant". Er machte eine Geste, als könnte er das Gesagte wegwischen und warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. 

Es ist schon spät und es wird ihnen bestimmt kalt sein hier draußen, setzen wir uns in den Salon?", fragte er und stand auf. "Nein danke!", sagte Rachel bestimmt. "Sie vertraute O'Connor, allerdings wollte sie so ganz alleine nicht einfach mit ihm  mitgehen. Jedoch sollte sie auch nicht alleine draußen bleiben. 

Wiederwillig ließ sie sich von ihrem neuen Freund hochhelfen, der ihr beim Einpacken der Farben half und die Tasche gleich in der Hand behielt. Da sie drauf bestand, trug das Mädchen ihren Block mit dem Kunstwerk selber. Im Eingangsbereich standen sie sich gegenüber und Rachel wollte sich grade verabschieden, als Kennet O'Connor auf ein Mal auf sie zu schwankte.

Mein amerikanischer GentlemanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt