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Verträumt sitze ich, mit meinem Rucksack auf dem Schoß, in der Cafeteria und beobachte Michael dabei, wie er auf seinem gewohnten Platz sitzt und irgendeine Aufgabe bearbeitet. Er hat Kopfhörer in seinen Ohren und scheint vollkommen versunken in seiner eigenen Welt.

Mir ist noch nie aufgefallen, dass Michael so früh in der Schule ist. Jeden Mittwoch und Freitag habe ich eine Freistunde und ziemlich früh habe ich festgestellt, dass Michael zur gleichen Zeit ebenfalls keinen Unterricht hat. Freitags ist unsere Freistunde in der vierten Stunde, jedoch ist die Freistunde am Mittwoch in der ersten.

Meistens komme ich dann einfach später und nehme den Bus, der eine halbe Stunde nach dem regulären Schulbus fährt, aber heute hat mich meine Mutter zur Schule gebracht, weil mein Bruder aus einem mir unbekannten Grund mit dem Auto zur Schule gefahren wurde, und ich bin ziemlich früh in der Schule gewesen. Doch als ich die Cafeteria betreten habe, saß Michael bereits hier. Es scheint so, als würde er trotzdem pünktlich zum ersten Gong in die Schule kommen. Nur geht er dann nicht in irgendein Klassenzimmer, sondern hierher. Genau da, wo er sonst auch sitzt. Inzwischen habe ich es mir auch angewöhnt, immer an dem gleichen Platz während meiner freien Stunde zu sitzen.

Jedoch bin ich nie so produktiv wie Michael. Während er eine Aufgabe nach der nächsten erledigt, bin ich eher damit beschäftigt ihm zuzuschauen. Zwar versuche ich auch mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren, weil der Nachmittag dann um einiges entspannter wird, wenn man schon etwas erledigt hat, aber es hat noch nie wirklich funktioniert. Meistens habe ich dann, wenn die Freistunde endet, bloß ein paar Sätze geschrieben oder Gleichungen gelöst.

Auch jetzt hatte ich eigentlich vor den Text für meine Rolle für unser Theaterstück durchzugehen und ihn ein wenig zu lernen, weshalb der dicke Stapel an Blättern auch immer noch vor mir auf dem Tisch liegt, jedoch habe ich ihn bis jetzt nur einmal durchblättert.

Als ich Manuel und Patrick gestern diese Menge an Papier gezeigt habe, waren sie ziemlich erschrocken. Der Text ist ellenlang und ich habe keine Ahnung, wie ich den in meinen Kopf bekommen soll. Zwar haben mir meine beiden Freunde ihre Hilfe angeboten, doch bei der Masse an Text, bezweifle ich, dass das auch nur ansatzweise helfen wird. Obwohl ich eigentlich relativ gut darin bin Texte auswendig zu lernen, habe ich ziemlichen Respekt davor. Zumal ich mich hier auch ordentlich blamieren kann, wenn ich nicht die passenden Sätze kann. Außerdem bin ich ein Meister darin, Dinge aufzuschieben. Ich mache vieles einfach auf den letzten Drücker und das kann ich mir hier eigentlich nicht erlauben.

"Michael!", ruft jemand und erschrocken schauen ich und der Junge am anderen Ende der Cafeteria auf.

Als er einen seiner Freunde erblickt, nimmt er seine Kopfhörer aus seinen Ohren.

"Was machst du denn hier?", fragt Michael.

"Deutsch fällt heute aus", antwortet der Junge, der inzwischen gemeinsam mit Michael an dem Tisch sitzt.

Michael nickt verstehend, steckt sich dann wieder die Kopfhörer in die Ohren und setzt seine Aufgaben fort. Auch der andere Junge holt ein paar Hefter heraus und beginnt Schularbeiten zu erledigen.

Doch als Michael sein Buch und Heft nach einer Zeit in seinen Rucksack steckt, da er die Hausaufgaben wohl erledigt hat, nimmt er auch seine Kopfhörer ab, was den anderen Jungen dazu bringt zu sprechen:

"Ich habe gehört du spielst die Hauptrolle in dem Stück."

Seufzend lehnt Micha sich an die Lehne seines Stuhls und ich sehe, dass sein Blick kurz zu mir huscht.

"Ja, das ist irgendwie passiert. Ich habe nicht vorgesprochen. Unsere Lehrerin hat die Rollen einfach zugeteilt."

"Und du musst jetzt diesen homosexuellen Jungen spielen?"

"Es scheint so."

Michael senkt den Blick und meidet den Augenkontakt mit seinem Freund.

"Aber du wirst doch davon jetzt nicht auch schwul, oder? Das wäre voll uncool."

In mir steigt sofort die Wut auf. Wie kann man denn so primitiv sein?
Was ist das denn für eine Frage?
Und warum ist es uncool, wenn jemand schwul ist?
Das ist der größte Müll, den ich je gehört habe.

Michael beginnt bloß zu lachen, zieht seine Augenbrauen zusammen und schüttelt verständnislos den Kopf.

"Nein, man. Ich doch nicht."

Erleichtert seufzt der andere und beginnt ebenfalls zu lachen.

"Super, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Ich meine, wenn du schwul wärst, dann wäre das schon komisch. Nicht, dass du das falsch verstehst, ich habe nichts gegen Schwule, aber mit einem von denen muss ich nicht unbedingt befreundet sein. Stell dir mal vor du würdest dich in mich verlieben! Das wäre ekelig."

Glücklicherweise ertönt der Gong, der das Ende der ersten Stunde verkündet, weshalb ich aufstehe, mir meinen Rucksack aufsetze, mir einfach das Skript schnappe und mich auf den Weg zu Manu und Patrick mache. Hätte ich diesem Jungen auch nur eine Sekunde länger zugehört, dann hätte ich ihm in sein Gesicht geboxt.

Ich warte vor dem Klassenraum, in welchem meine Freunde gerade Englisch hatten. Nicht lange dauert es, bis die Tür geöffnet wird und Manu herausspaziert. Gemeinsam warten wir darauf, dass Patrick ebenfalls das Klassenzimmer verlässt.

Irgendwie ist er von uns dreien immer der, der als letztes auftaucht. Egal, ob es um die Pausen, den Bus oder Treffen am Nachmittag geht.
Dafür kann es aber vorkommen, dass Manu oder ich unsere Verabredungen einfach verpennen. Und wenn ich sage verpennen, dann meine ich auch verpennen. Es ist schon ab und zu vorgekommen, dass einer von uns nicht aufgetaucht ist, weil wir einfach eingeschlafen sind.

"Hast du gerade deinen Text gelernt?", erkundigt sich Patrick, als dieser aus dem Raum kommt, wir uns gemeinsam auf den Weg zu unserer nächsten Unterrichtsstunde machen und er die Zettel in meiner Hand entdeckt.

"Eigentlich hatte ich es vor, aber ich wurde abgelenkt."

"Von wem?", fragt Patrick.

"Von wem wohl, du Idiot. Er schwärmt uns doch jedes Mal die Ohren voll, wenn er eine Freistunde mit seinem Romeo hatte. Und nachmittags heult er dann, weil er noch so viele Aufgaben machen muss, obwohl er die eigentlich schon in der Schule hätte machen können, wenn er die Leute nicht belästigen würde", kommt es von Manu.

"Mit meinem Romeo?"

Manuel nickt bloß und wir laufen die Treppen zum Obergeschoss hinauf, wo wir gleich Politik haben.

"Ist irgendetwas passiert in deiner Freistunde?", kommt Patrick erneut auf das Thema zusprechen.

"Tatsächlich ist etwas passiert, aber es war weniger erfreulich. Ein Freund von ihm hat ziemlich homophobe Aussagen gemacht. Und er hat gar nichts gesagt. Er hat einfach da gesessen und sich den Müll angehört."

Mitleidig schauen mich meine beiden Freunde an, jedoch zucke ich bloß mit den Schultern. Aber ich merke sofort, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet.

Es war schon schwierig für mich zu akzeptieren, dass Michael mir keine Beachtung schenkt.

Wie soll ich denn dann damit umgehen, wenn er tatsächlich homophob sein sollte und es erfährt?

Schauspiel - ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt