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Die Zeit vergeht und ohne es richtig zu realisieren ist es die letzte Stunde Literatur vor der Aufführung. Wir haben zwar noch eine Generalprobe, aber ansonsten wird vor dem Auftritt in ein paar Tagen nichts mehr geübt. Und Frau Bieneck ist der Meinung, dass auch die Stunde Literatur auf andere Art und Weise genutzt werden sollte, weil wir uns ansonsten verrückt machen würden. Deshalb sitzen wir heute wieder in einem normalen Klassenraum.

Ich mache mir auch ziemlich in die Hosen.

Denn ich bin meine Rolle doch nicht losgeworden.

An dem Mittwoch, an dem Michael gemeinsam mit Fabian geübt hatte, dachte ich noch, dass es vielleicht tatsächlich so wird, wie meine Freunde es vorausgesagt hatten. Doch als ich am Donnerstag wieder Literatur hatte, ist dieser Traum geplatzt, denn direkt zu Beginn der Stunde hat Frau Bieneck mit mir gesprochen und Michael stand neben ihr. Sie wollte mich darum bitten die Rolle doch wieder zu übernehmen und Michael hat sie dabei unterstützt. Fabian könne es nicht schaffen die Rolle so zu spielen wie ich es könne, uns laufe die Zeit davon und es sei zu spät für Änderungen.

Ich frage mich, wie Michael Frau Bieneck zu diesem Sinneswandel gebracht hat, immerhin war sie am vorherigen Tag noch zufrieden mit meiner Entscheidung. Und die Probe mit Fabian verlief super.

Doch egal was ich gesagt habe, es hat beide nicht interessiert. Sie beharrten darauf, dass ich die Rolle wieder spielen soll und irgendwann habe ich nachgegeben.

Nachdem ich mich dann bei Fabian entschuldigt habe, habe ich zugestimmt und noch einmal mit Michael geprobt. Und dieses Mal verlief es sogar ganz gut. Zwar immer noch nicht so wie bei den ersten Proben, aber besser als in den letzten. Das hat Frau Bieneck noch einmal in ihrer Meinung gestützt und ich hatte diese Rolle erneut am Hals.

Erstaunlicherweise verliefen auch die letzten Wochen gut. Zwar hat sich nicht viel geändert und irgendwie half auch das Eis und die Schokolade nicht, sodass ich schon Angst hatte, ich müsse mir tatsächlich eine Glatze schneiden, damit ich endlich über Michael hinweg komme, jedoch habe ich all das während den Proben vergessen können. Dabei habe ich mich nicht auf Michael konzentriert, sondern darauf, dass ich Frau Bieneck das Stück nicht versauen und sie, meine Freunde und meine Familie stolz machen will. Wenn ich diese Proben nicht ernst genommen hätte, dann hätte ich mich womöglich am Tag der Aufführung blamiert. Und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.

Frau Bieneck erklärt, dass wir uns in den Paaren, die sie zusammengestellt hat, zusammensetzen und uns intensiv in unsere Rollen hineinversetzen sollen. Wir bekommen eine Situation und sollen so handeln wie unsere Rolle es tun würde. Und um das ganze noch unangenehmer zu machen hat sie entschieden, dass Michael und ich zusammenarbeiten sollen. Irgendwie verständlich, immerhin spielen wir beide die Hauptrollen, aber trotzdem macht es das nicht einfacher.

Michael setzt sich auf den Platz links neben mir und schaut mich dann abwartend, aber auch unsicher an.

"Also, dann legen wir los", meine ich, drehe mich zum ihm und ziehe meinen rechten Fuß auf die Sitzfläche des Stuhles, auf welchem ich sitze. Dann greife ich nach den drei Umschlägen, in denen sich die vorgegebenen Situationen befinden. "Möchtest du die erste Situation vorlesen?"

Michael schüttelt den Kopf.
"Ich würde lieber über etwas anderes mit dir sprechen, Maurice."

Ich wende meinen Blick von ihm ab, nehme mir einen der drei Umschläge und lege die anderen beiden wieder weg.

"Wir hatten das Thema schon einmal, Michael. Ich will nicht mit dir darüber sprechen."

Schnell öffne ich den Umschlag und lese die wenigen Sätze darin durch, bevor ich sie dann vorlese:
"Du hast ein Date am Abend und dabei vollkommen vergessen, dass ein guter Freund von dir, dich am gleichen Abend zu sich eingeladen hat. Was tust du?
Gut, das ist einfach. Du fängst an."

"Maurice, das, was ich dir gesagt habe, als wir..."

"Bitte, Michael", unterbreche ich ihn, "beantworte einfach die Frage."

Er seufzt und beginnt dann zu erklären, wie Zombey in dieser Situation handeln würde und auch ich erkläre dann welche Handlung für Maudado typisch wäre.

Als wir beide zufrieden mit unseren Antworten sind, greife ich nach dem nächsten Umschlag und halte Michael diesen entgegen. Er nimmt ihn in seine Hand, doch anstatt ihn zu öffnen legt er ihn wieder auf den Tisch.

"Es ist mir wirklich wichtig, dass du mir zuhörst, Maurice. Du bist mir..."

"Kannst du bitte das tun, was uns gesagt wurde?", fordere ich ihn auf und spreche etwas zu laut, weshalb ein paar unserer Mitschüler und auch Frau Bieneck auf uns aufmerksam wird. Sie steht auf, kommt auf uns zu und stellt sich dann vor die Tische, an welchen wir sitzen.

"Warum versucht ihr zwei es nicht noch einmal mit einer der Übungen, die wir ein paar Mal während der Proben oder vorher gemacht haben? Mir kommt es so vor als gäbe es ein paar Spannung zwischen euch. Vielleicht könnt ihr euch so wieder aufeinander einlassen."

Seufzend nehme ich meinen Fuß vom Stuhl und drehe mich nun vollständig zu Michael und er tut es mir gleich. Frau Bieneck meint die Übung, in der man sich gegenüber sitzt und beginnt seinen Gegenüber zu beschreiben. Vorerst kann diese Beschreibung oberflächlich ausfallen, doch dann kann man auch den Charakter der Person beschreiben. Das, was Michael in diesem Fall zu mir sagen würde, müsste ich wiederholen und dann etwas über ihn sagen.

Damit Michael nicht wieder vom Thema abschweifen kann, beginne ich sofort mit der Übung und sage:

"Du hast ein T-Shirt an."

Ohne lang zu zögern macht Michael weiter.
"Ich habe ein T-Shirt an. Du hast blondes Haar."

"Ich habe blondes Haar. Du hast blaue Augen."

"Ich habe blaue Augen. Du hörst mir nicht zu."

Böse schaue ich ihn an, will die Übung aber nicht abbrechen, weshalb ich einfach mitspiele.
"Ich höre dir nicht zu. Du suchst Ausreden."

"Ich suche Ausreden. Du verstehst mich nicht."

"Ich verstehe dich nicht. Du hast keinen Mut."

"Ich habe keinen Mut. Du hast kein Selbstbewusstsein."

"Ich habe kein Selbstbewusstsein. Du stehst nicht zu dir selbst."

"Ich stehe nicht zu mir selbst. Du kannst nicht richtig sprechen."

Erschrocken schaue ich Michael an. Dass er sich jetzt auch über die Proben, in welchen ich gestottert habe, lustig macht, verletzt mich. Aber sofort fällt mir ein, was ich ihm entgegnen kann.

"Ich kann nicht richtig sprechen. Du bist schwul."

Michael ist kurz still, schaut mich kurz, ebenfalls verletzt, an und lässt dann seinen Blick durch den Klassenraum schweifen, um zu prüfen ob uns jemand zuhört, was glücklicherweise nicht der Fall ist. Dann antwortet er:

"Ich bin schwul und habe mich in dich verliebt."

Passend dazu ertönt die Klingel.
"Du bist unmöglich", meckere ich, wende mich von ihm ab und stopfe schnell mein Zeug in meinen Rucksack.

"Es stimmt, Maurice. Und diese Beleidigung..."

"Ich habe gesagt", schneide ich ihm das Wort ab und setze mir meinen Rucksack auf, "ich will nicht darüber sprechen."

Mit schnellen Schritten verlasse ich das Klassenzimmer und auch die Schule. Ich kann gar nicht verhindern, dass mir die Tränen kommen und bevor ich überhaupt beim Parkplatz ankomme, laufen mir diese bereits wie Wasserfälle über meine Haut.

Schauspiel - ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt