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"Geht es dir gut, Maurice? Du siehst so blass aus."

Ich schaue nach rechts, wo Manu sitzt und mich besorgt mustert. Dass unsere Musiklehrerin gerade einen Monolog über Symphonien hält, scheint ihn wenig zu interessieren, während Patrick, der rechts neben ihm und somit am Gang sitzt, so aussieht als würde er der Lehrerin zumindest ein wenig interessiert zuhören.

"Du machst dir doch nicht wirklich solche Sorgen wegen der Probe gleich, oder?"

In weniger als drei Stunden habe ich wieder Literatur. Nach der jetzigen Stunde folgen noch zwei Stunden Englisch bevor ich mich wieder vor allen blamieren muss. 

"Hast du nicht gesagt, dass Michael süß zu dir war, als ihr am Freitag geübt habt? Du hast das ganze Wochenende lang gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Und jetzt hast du so eine Angst, dass du dir entweder gleich in die Hose machst oder, deiner Farbe im Gesicht nach zu urteilen, dich über den ganzen Tisch übergibst."

"Michael war auch super nett und hat sich richtig um mich gesorgt, aber genau das ist das Problem. Was ist, wenn ich mich wieder blamiere? Vielleicht mag er mich dann nicht mehr. Wenn sich die anderen in unserem Kurs wieder über mich lustig machen, dann kann ich nicht daran nichts ändern."

"Aber Michael kann. Und er wird. Immerhin hat er dir versprochen, dass er dich beschützt."

"Ich bitte dich Manuel. Er hat nicht einmal den Mut dazu, seinen Freunden zu sagen, dass er, anders als sie, andere Sexualitäten toleriert. Wie soll er da seinen Freunden die Stirn bieten, wenn sie wieder über mich lachen oder irgendwelche Sprüche an den Kopf werfen?"

In dem Klassenzimmer ertönt plötzlich Musik, weshalb Manuel und ich erschrocken aufschauen. Anscheinend hat die Lehrerin eine Symphonie gestartet, der wir zuhören sollen. Also sind Manu und ich von jetzt an still und hören den Instrumenten zu, die uns über Lautsprecher beinahe das Gehirn aus dem Kopf pusten. 

Nach dieser Stunde begeben meine Freunde und ich uns in die Cafeteria, da sowohl Patrick als auch Manu jetzt frei haben, während ich mich durch Englisch quälen muss. Als dann auch noch die Klingel zum Ende der Pause ertönt, sinkt meine Laune noch weiter. Ich hasse Englisch. Jedes andere Fach, außer Mathe und Literarur, wäre besser, weil ich sonst alle Fächer mit mindestens einem meiner Freunde zusammen habe.

"Viel Spaß", wünscht mir Manuel und auch Patrick murmelt etwas, bevor ich die Cafeteria verlasse und mich zu dem Klassenraum begebe, welcher bereits aufgeschlossen ist und die Lehrerin schon an ihrem Pult steht.
Außer mir sind erst drei andere Schüler hier.

"Ich muss noch einmal ins Lehrerzimmer. Bin gleich wieder da", meint die Lehrerin und ist schon aus dem Raum verschwunden.

Seufzend lasse ich mich auf meinen Platz in der letzten Reihe unmittelbar neben der Tür fallen und hole mein Buch und einen Block aus meinem Rucksack.

"Hey, M... M... Maurice", kommt es von jemandem hinter mir und meine Laune, obwohl ich es eigentlich nicht für möglich hielt, sinkt noch weiter. "Freust du dich schon auf die P... P... P... Probe gleich?"

Lachend begibt sich die Gruppe auf ihre Plätze in der dritten und vierten Reihe an den Fenstern, einzelne Mitglieder werfen mir noch spöttische Blicke zu und reden dann weiter über Irgendetwas belanglos.

Als ich sehe, wie sich jemand neben mich stellt, möchte ich am liebsten schreien und ihm sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Doch höre ich dann Michaels Stimme und schaue ihn ein wenig erstaunt an.

"Darf ich mich neben dich setzen?", fragt er und lächelt leicht.

Er scheint mitbekommen zu haben was gerade passiert ist.

"Wenn das für dich in Ordnung ist? Ich meine..."

"Wenn ich ein Problem damit hätte, dann hätte ich dich nicht gefragt."
Michael lacht und schaut mich dann wieder fragend an. "Also?"

"Gerne."

Auch ich lächele ihn nun ein bisschen schüchtern an, nehme meinen Rucksack von dem Stuhl neben mir und er setzt sich auf genau diesen Platz, der sonst immer leer ist.

Ich spüre sofort die Blicke von den Jungs, die sich gerade noch über mich lustig gemacht haben, auf mir ruhen und ich kann mir gut vorstellen, wie sie mich skeptisch und schon beinahe abwertend anschauen. Auch ihre lauten Stimmen, die jeder in der Schule womöglich gehört hat, werden leiser oder verstummen ganz.

In meinem Körper spielt gerade alles verrückt. Zum einen habe ich Angst, dass das Verhalten der Jungs jetzt noch verstärkt wird. Dass sie sich jetzt nur noch mehr über mich lustig machen oder mich sogar beschimpfen, weil ich neben Michael gesessen habe.
Zum anderen bin ich glücklich und habe ein kleines bisschen Hoffnung. Darauf, dass ihre blöden Sprüche nun aufhören. Und auch, dass Michael und ich vielleicht noch ganz gute Freunde werden könnten. Jedoch weiß ich nicht, ob ich es tatsächlich schaffen kann, neben ihm zu sitzen. Vor lauter Aufregung dreht sich mein Magen und ein Kribbeln erfüllt meinen ganzen Körper. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich entweder gleich einen Herzinfarkt erleide oder es mir aus der Brust springt.

Die Lehrerin betritt den Raum wieder, begrüßt uns auf Englisch und beginnt dann mit dem Unterricht. Während die Lehrerin spricht, schweige ich die ganze Zeit und versuche einen möglichst großen, aber unauffälligen Abstand zu Michael zu halten.
Ich will nicht zu aufdringlich sein und ihn noch dazu bringen, dass er seine Entscheidung, sich neben mich zu setzen, noch bereut.

Als diese, eigentlich ziemlich unspektakuläre, Stunde endet, gehen Michael und ich gemeinsam zu der Aula.

"War es dir unangenehm neben mir zu sitzen?", möchte Michael wissen, als wir gerade einen langen Gang entlang laufen, in dem sich niemand befindet.

Ja, war es. Immerhin stehe ich auf dich und ich wusste nicht wie ich mich verhalten soll. Aber das sage ich ihm ganz sicher nicht.

"Nein, wie kommst du darauf?"

"Du warst so still und hast nicht wirklich entspannt gewirkt. Oder lag das an den Ereignissen vor dem Unterricht?"

Stumm nicke ich einfach. Natürlich habe ich die Sprüche der Jungen immer wieder in meinem Kopf wiederholt und mich über sie geärgert, aber deswegen war ich nicht angespannt. Vielmehr lag es daran, dass mein Schwarm direkt neben mir saß.

Michael scheint zu verstehen, dass ich nicht darüber reden möchte, und ist ruhig. Auch die Jungs von gerade kommen zur Aula und sobald sie sehen, dass ich bei Michael stehe, werfen sie sich komische Blicke zu, die ich nicht richtig deuten kann. Aber wirklich darüber nachdenken kann ich nicht, weil Frau Bieneck ebenfalls gemeinsam mit einem Hausmeister zu uns kommt, die Aula aufgeschlossen wird und wir den großen Saal betreten.

Und dann müssen Michael und ich auch schon auf die Bühne.

Schauspiel - ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt