Nachrichten. Corona-Virus. Alles war voll davon. Alle Flüge nach China waren gecancelt. Ein Touristenschiff vor der Küste von China wurde in Quarantäne versetzt. Mehrere Todesfälle. Wie viel gab es inzwischen? Fünfzig? Hundert?
Natürlich ist all das dramatisch, aber die Auswirkungen auf die Menschheit sah selten jemand. Ich, Lien, war gebürtige Chinesin, wanderte jedoch kurz nach meiner Geburt mit meinen Eltern in die USA aus. Ich hatte ein glückliches Leben. Freunde, Familie, Ehemann. Mit diesem saß ich gerade in einem Hotel auf Teneriffa in den Flitterwochen.
Ash trat hinter mich, einen Arm um meine Taille geschlungen.
„Mach dir keinen Kopf! Das wird sich wieder legen." Seine Stimme klang sanft. Eine braune Haarsträhne von ihm kitzelte mich an der Wange. Ich drehte mich zu ihm und strich sie ihm aus der Stirn.
Ein aufmunterndes Lächeln spiegelte sich auf seinen Lippen wieder. Seine Haare hatte er heute zu einem ordentlichen Zopf gebunden.
„Lien, das wird schon. Du denkst zu viel nach."
„Ich... Nichts wird wieder, Ash. Unser Hotel wird abgeriegelt. Als Nächstes sind wir alle in Quarantäne. Ich bin die einzige Chinesin hier. Alle werden mir die Schuld geben. Werden mich ansehen, als sei ich Abschaum, würden mir Vorwürfe machen. Denn das ist es, was Menschen tun. In solch einer Lage denken sie nicht, sondern suchen einen Schuldigen. Wenn genau in dem Moment jemand hier drin ist, der dem Aussehen einer Chinesin sehr nahekommt... umso besser! Dann müssen sie nicht lange suchen."
Ash schüttelte seinen Kopf. Traurigkeit und Besorgnis spiegelte sich in seinem Blick wieder. Ich wusste, dass er meine Worte verstand. Meine Angst, dass Zimmer zu verlassen. Und ich wusste auch, dass er mich dazu nicht zwingen wird. Ash trat näher und zog mich an sich. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Brust, lauschte seinem Herzschlag.
BUMM. BUMM. BUMM.
Das war es, was mich beruhigte, was mir die Angst nahm. Ehrlich gesagt hatte ich wahnsinnige Angst.
In einem Hotel festzusitzen mit Verdacht auf den Virus, an dem schon mehrere hundert Menschen gestorben waren. Die Ungewissheit was mit meinen Eltern in Jacksonsville war oder mit meinen Großeltern in China. Ich konnte es gar nicht richtig in Worte fassen. Es war, als würde ein dunkler Schatten über mir schweben. Ein Schatten, den ich nicht sah, aber ich wusste, dass er da war.
Wer würde als Nächstes sterben? Ash?
Ich schluchzte erdrückt auf. „Hey...", murmelte er. Irgendwie in der Umarmung schaffte er es mich auf das Bett zu befördern. Und wieder einmal tat er das, was ich am meisten brauchte. Er hielt mich fest. Er gab mir Halt.
Ash war ein großgebauter, muskulöser Mann mit einem schmalen Gesicht, leuchtend grünen Augen und hohen Wangenknochen. Sein einziger Makel waren seine brustlangen braunen Haare, die er sich immer zum Pferdeschwanz band. Manchmal wirkte es seltsam, mit jemand verheiratet zu sein, der längere Haare hatte als man selbst.
Wie MOM immer gesagt hatte: Aussehen zieht an, Charakter festigt.
Es stimmte. Sein Charakter war wundervoll. Er wusste immer, was man brauchte und war immer da. Er hatte ihr beigebracht auf die kleinen Dinge zu achten.
„Lien...", murmelte er. Seine Stimme klang rau und leise. „Du musst etwas essen. Komm mit herunter. Ich weiß, dass es dir schwerfällt. Aber es sind unsere Flitterwochen. Lass dich nicht herunter ziehen und mach das Beste aus dieser Scheiß Situation. Gib ihnen nicht das, was sie wollen!"
Ich zögere. Ich wollte partout nicht herunter. Die anderen Menschen machten mir Angst. Ich wollte ihre Blicke nicht sehen, ihre Worte nicht hören. Und andererseits hatte Ash recht. Ich sollte mich verdammt nochmal nicht von so etwas beeinflussen lassen. Ja vielleicht war ich Chinesin, aber ich lebte mein Leben lang in Jacksonsville. Das ist es doch was zählt, oder?
Ich rappelte mich auf und nickte Ash zu. „Lass uns in das Restaurant gehen", murmelte ich. Auf seinen Lippen zeigte sich ein Lächeln, beinahe wirkte es triumphierend. „Wenn wir hier herauskommen...", murmelte ich. „Dann werde ich erst einmal auf Reisen verzichten."
Da stimmte er mir zu, als wir die Hotelzimmertür passierten.
Meine Hände kribbelten, in meinem Bauch machte sich ein unwohles Gefühl breit, eines das ich nicht direkt kontrollieren konnte.
Ash nahm meine Hand, verschränkte unsere Finger. Und ich war ihm unendlich dankbar dafür. Langsam gingen wir über den dunkelblauen Teppich des Hotelflurs. Er wirkte wie ausgestorben. Wahrscheinlich alle in ihrem Zimmer, um der infizierten Chinesin nicht zu begegnen.
Der Fahrstuhl war außer Betrieb, daher waren wir leider gezwungen die Treppe zu nutzen. Und es war schrecklich. Die fünf Leute, die uns entgegenkamen, straften mich mit verachtungsvollen Blicken. Gingen so nah links wie möglich, um viel Abstand zwischen uns zu bringen. Es war erniedrigend und ich bemerkte an Ashs Hand, die meine Hand fester drückte, dass auch er sich zusammenreißen musste.
Wir mussten durch eine Glastür. Laute Stimmen brachen über mich herein, sobald die Tür ins Schloss fiel und wir in dem Restaurant standen.
Verachtende Blicke. Geflüsterte Worte. Getuschel und laute, nicht überhörbare Beleidigungen.
„Wir sind voll!", sagte eine Kellnerin im Vorbeieilen.
Sie blieb nicht stehen. Sie schaute uns nicht an. Und dennoch sah ich das hinten noch mehrere Tische frei waren und offenbar auch nicht reserviert waren.
Plötzlich riss sich Ash von mir los.
„Ist es, weil sie Chinesin ist?", entgegnete er aufgebracht. Er wartete gar keine Antwort ab, sondern fuhr direkt fort.
„Ja, sie ist Chinesin. Sie wurde dort geboren und direkt danach ist ihre Familie nach Jacksonsville ausgewandert. Seitdem hat sie absolut nichts mit dem Land zu tun.
Jeder in diesem Raum könnte den Coronavirus haben. Der Schwarzhaarige da hinten. Er könnte ein Italiener sein, dort geht dieser Virus momentan auch sehr rum. Die Schwangere dort: Wer sagt, dass sie nicht kürzlich auf einer Yacht war. Und sie? Wer sagt, dass sie nicht infiziert sind? Heutzutage könnte absolut jeder diesen Virus haben!"
Jemand weiter hinten in der Ecke hustete stark. Wahrscheinlich hatte er sich verschluckt.
„Und der? Wer sagt, dass er nicht infiziert ist? Soweit ich weiß, beginnt es mit einem Husten. Also wenn sie mich nun entschuldigen? Ich werde mich mit meiner Frau jetzt in die Ecke dort setzen und gemütlich zu Abendessen und wenn Sie damit ein Problem, dann haben Sie anscheinend den falschen Job!"
Ash war so wütend. Wütend auf die Kellnerin auf die Gäste. Auf die Menschheit. Aber seine Worte hatten etwas gebracht. Die Gäste sahen auf ihre Teller, niemand verließ das Restaurant und die Kellnerin brachte ein heiseres „Entschuldigung" über ihre Lippen.
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Short StoryHier findet ihr ein Haufen Kurzgeschichten, die entweder im Rahmen verschiedener Challenges auf Belletristica entstanden sind oder einfach so aus Langerweile :D Es wird ein bunter Mix sein. Daher werde ich FSK 18 Spezial an den Kapiteln kennzeichne...