Was passiert mit Kindern, die aus ihrer Familie herausgeholt werden? Aus ganz unterschiedlichen Gründen. In den meisten Fällen, lernen sie sich anzupassen und führen ein Leben jenseits ihrer Familie. Dann gibt es die anderen Fälle. Die kleinen Kinder, die viele Traumata mit sich bringen, keine Ahnung haben wie man die Wut in sich selber bändigen kann. Natürlich könnten sie in eine geschlossene Wohngruppe kommen oder eine Therapie machen. Dies ist jedoch unmöglich. Mit unter zehn Jahren wird beides nicht in Betracht gezogen und so dürfen wir uns, die Erzieher in einer Wohngruppe, mit gerade diesen Fällen „herumschlagen".
So ging es Luca auch. Er war neu in der Gruppe, frisch aus der Ausbildung direkt in das Berufsleben. Und direkt in eine Eskalation herein. Beschreiben muss ich das jetzt nicht. Vieles kann man sich ausmalen. Aber kurz gesagt: Es ist der reinste Horror eine solche Eskalation bei einem achtjährigen Mädchen zu sehen, die brüllt und mit Sachen wirft. Alle anderen Kinder müssen dann immer in ihre eigenen Zimmer aus Schutz. Man wusste nie, was bei diesem achtjährigen Mädchen als Nächstes passierte. Man wusste nicht den Grund.
Luca war hier für eine Eins zu eins Betreuung mit Stella.
„Du darfst nicht einfach in mein Zimmer gehen!"
Erschrocken fuhr Luca zusammen. Nicht aus Angst. Er blickte hinab auf das blondhaarige Mädchen. Eigentlich wirkte sie ganz zahm und lieb. Süß.
„Mag sein. Aber ich mach's", entgegnete er kühl. Für einen kleinen Augenblick, ein paar Sekunden, war Stella sprachlos und starrte wütend zu ihm auf. „Hast du nichts zu tun?!"
„Du hast aber viele Fotoalben", murmelte er und trat näher auf das weiße Kallax Regal zu. Ein ganzer Kasten war dort mit Fotoalben gefüllt. „Immer wenn ich aus einer Wohngruppe fliege, bekomme ich eins zum Abschied." Sie zuckte ihre Schultern, als wäre es bloß eine Kleinigkeit, die man damit wegwischen konnte. Dabei waren es neun Fotoalben. Neunmal rausgeflogen und acht Jahre alt. Diese Quote musste man erstmal haben.
Aus den Akten von Stella wusste Luca, dass Stella mit fünf Jahren aus der Familie geholt wurde mit der Polizei. Drei Jahre und neunmal umgezogen. Was muss dieses kleine Mädchen erlebt haben?
Aus dem Gespräch mit der Jugendamtsmitarbeiterin wusste er, dass sie bald wieder umziehen soll. Bisher kamen von fünfzehn Gruppen nur absagen. Das war doch schrecklich! Ein ständiger Wechsel. Nie ein richtiger Aufbau des Lebens. Keine Schule. Keine Freunde. Keine Bindungsperson. Stella war komplett alleine. Sie hatte niemanden.
„Musst du nicht arbeiten?", fragte sie erneut. Sie wirkte noch immer kampflustig. Luca nickte.
„Ich arbeite."
„Nein! Du nervst, Erzieher!"
„Na, dann erfülle ich ja alle Bedingungen meines Jobs", entgegnete er locker. Dann hockte er sich hin und hielt ihr seine Hand hin. „Ich bin Luca."
„Mir egal!"
Seufzend richtete er sich wieder auf. „Stella... es gab eine Notsitzung mit Fr. Bisalski. Die zuständige Frau vom Jugendamt für dich."
„Komm ich zu Mama?!" Ihre blauen Augen nahmen ein fröhliches Strahlen an.
„Nein. Noch nicht. Es wurde über den Umzug in eine neue Gruppe gesprochen. Bisher sieht es nicht so gut aus. Du musstest inzwischen so oft wechseln und bekommst nie neue Chancen. Ich bin nur für dich hier. Ich bin kein Erzieher. Ich bin kein Mitarbeiter hier. Ich bin ein Sozialarbeiter. Überall wo du hinziehst, werde ich mitkommen. Ich wollte, dass du das weißt."
Stella blinzelte verwirrt. Es flossen keine Tränen. Nichts. „F-Für mich?"
Luca nickte. „Du hast ständig wechselnde Person. Neue Gesichter. Es ist eine Methode die Frau Bisalski ausprobieren möchte. Ich denke damit kommen wir weiter. Wenn alle Gesichter wechseln, bleibt meines da."
Stella nickte. Sie wirkte plötzlich freundlich und aufgeschlossen und erleichtert.
Zwei Wochen später saß sie bei Luca im Wagen. Der Kofferraum vollgepackt mit ihren Sachen. Vor zwei Tagen hatte Stelle unter Panik ein Kind angegriffen und ein Fenster mit einem Ball eingeschmissen. Luca war da und hatte sie gehalten. Solange bis sie sich beruhigt hatte. Es war anstrengend. Sie wurde rausgeschmissen.
Luca war dabei gewesen. Bei dem Auslöser. Das traurige daran war, dass Stella gar nicht schuld war. Die anderen Kinder haben bewusst ihre Schwächen ausgenutzt im Beisein der Betreuern. Niemand hatte eingegriffen. Nicht mal als Stella lauter geschrien hatte: „Lasst es, ihr Penner!"
Keiner hatte eingegriffen. Jeder kannte ihre Schwächen und sie ließen es zu, dass Stella eskalierte. In solch einer Situation war es schwer, die Kontrolle zu wahren und kein Mitleid durchsickern zu lassen.
„Wo fahren wir hin?", fragte Stella leise.
„Hamburg."
„Eine neue Gruppe?" Luca nickte. „Ja. Aber ich werde da sein."
Luca hielt auf einem Rastplatz und sobald der Motor aus war fiel Stella ihm um den Hals.
„Danke!"
Sie schrie es beinahe. Erleichterung sprach aus ihrer Stimme. Diese Nacht schliefen sie im Wagen. Vorher jedoch war noch ein wichtiges Gespräch.
„Hast du Familie?"
„Nein.", erwiderte Luca. „Was ist mit dir?"
„Mama hasst mich-"
„Quatsch! Deine Mama liebt di-"
„Halt die Klappe!", fuhr Stella ihn an und sah zu ihm auf.
„Sie hat Angst vor mir. Meine Geschwister dürfen Zuhause sein. Ich nicht. Mama kommt nie her. Sie hält ihr Versprechen nicht ein."
Luca nickte. Er wollte sie nicht unterbrechen. Aber eins war ihm klar. Stella war nicht böse, sie wurde von ihrem Umfeld böse gestimmt. Stella brauchte eine Familie, ein festes Umfeld. Eine Person, die immer da war. Dieses konnte auch er nicht erfüllen. Irgendwann hat er Urlaub oder ist krank. Dann kommt eine neue Person. Das ist nicht sinnvoll. Es würde ihr nur noch mehr schaden.
„Ich möchte nur eine Familie haben. Ein Zimmer!"
In dieser Nacht im Auto fiel ihm auf, dass sie etwas Weißes in ihren Händen hielt. Fest umklammert. „Was hast du da?", fragte er.
„Das? Das ist Mama. Sie hat es mir gegeben, als ich von Zuhause abgeholt wurde." Stolz zeigte sie Luca das Foto. Darauf war nichts mehr zu erkennen, außer blassen schwarzen Linien. Es war eine verblichene Fotografie. Und obwohl kein Mensch mehr darauf mehr zu erkennen war bedeutete es Stella so unendlich viel.
Das und das Gespräch davor waren der ausschlaggebende Grund für seine Entscheidung. Ein Adoptionsverfahren. Er blickte diesem positiv entgegen. Für ihn war ein Zuhause und eine Familie das, was Stella am meisten benötigte. Eine Rückführung zur Mama stand gar nicht im Raum.
Er hatte die Wahl: Stella adoptieren oder dabei zusehen, wie sie innerhalb von zehn Jahren von Wohngruppe zu Wohngruppe zieht und sich ihr Verhalten gar nicht ändert.
Inzwischen war Stelle dreizehn Jahre alt. Sie hatte sich sehr verändert. Von ihren kindlichen Ausrastern war nichts mehr zu spüren. Ab und zu kam die Pubertät durch und sie zickte rum und fluchte. Aber im Vergleich zu früher waren dies nur Kleinigkeiten. Luca uns Stella hielten zusammen und sie wusste, dass sie immer und mit allem zu ihm kommen konnte. Und sie war ihm unendlich dankbar.
Luca war froh diesen Schritt getan zu haben. Aber ehrlich gesagt hätte er diesen Schritt nie getan, wenn er die verblichene Fotografie in ihren kleinen Händen nicht gesehen hätte. Denn nur diese hat ihre Not und ihr tiefstes Bedürfnis widergespiegelt.
YOU ARE READING
Short Stories
Short StoryHier findet ihr ein Haufen Kurzgeschichten, die entweder im Rahmen verschiedener Challenges auf Belletristica entstanden sind oder einfach so aus Langerweile :D Es wird ein bunter Mix sein. Daher werde ich FSK 18 Spezial an den Kapiteln kennzeichne...