Fangt mal ein kleines Mädchen auf, welches verzweifelt am Abgrund steht. Allein dieser Gedanke verursacht Benny Übelkeit.
Er hat ein großes Problem, denn er sieht nie die Probleme in einem Menschen. Er sieht die Ursachen und die tiefsten Bedürfnisse eines Menschen, Kindes. So schwer ist das gar nicht. Egal was ein Kind tut, sie äußern ihre tiefsten Bedürfnisse durch die kleinsten Taten. Durch einen traurigen, verzweifelten Blick. Ein fröhliches Lächeln. Eine vorsichtige Berührung.
Ein Kind kann dich hauen und es ist ein Schrei um Aufmerksamkeit oder in diesem Fall Hilfe.
Mia kann Tim hauen und bekommt die Konsequenz. Aber wird nicht gefragt, was Tim vorher getan hatte? An einem Streit sind immer zwei beteiligt.
Aber das liegt alles in der Vergangenheit. Mia hat so viel durchgemacht.
Sie wurde mit der Polizei und dem Krankenwagen vor fünf Jahren von Zuhause abgeholt und in eine Kinderpsychiatrie gebracht. Von da aus in eine Aufnahmegruppe und Monate später in eine feste Gruppe. Anschließlich folgten sechs Umzüge und drei Aufenthalten in der Kinderpsychiatrie. Aber niemand sah Mia. Alle sahen Mia's Fehler, aber keiner verstand ihre Aussage. Ihre Not. Ihre Hilflosigkeit. Niemand verstand, dass Mia mit neun Jahren panische Angst vor der Dunkelheit hatte. Niemand verstand, warum sie ausrastete, wenn man sie unter die Dusche schickte. Niemand fragte nach dem Grund. Niemand beruhigte sie. Niemand nahm sie in den Arm.
Der neue Betreuer, Benny, sprach dieses Problem im Gruppengespräch an. Es wurden alle Fehler hervorgehoben und Benny war der Einzige, der dies hinterfragte? War das unser System? Politik? Hilfeleistung?
Benny war der Betreuer, der mit Mia vier Wochen in den Wald fuhr und viele pädagogische Angebote startete. Auch wenn die Beiden Startschwierigkeiten hatten, veränderte Mia sich. Sie war unglaublich dankbar und froh über diesen Urlaub. Benny hatte dieses Mädchen gern. Auch wenn sie ausrastete. Um sich schlug und biss und Fenster mit Steinen einwarf. Denn alles hatte seine Gründe.
Nachdem vierwöchigen Waldausflug tauchte am Besuchstag plötzlich ihre Mutter auf. Plötzlich, weil die Mutter sich nie an irgendwelche Absprachen hielt. Sie telefonierte nicht, kam nicht in die Gruppe, war nicht zu erreichen und erkundigte sich nicht um das Wohlergehen ihrer Tochter. Und jetzt war sie hier mit Mias kleinen Geschwistern. Sie wollten Essen gehen. Dagegen war nichts zu sagen. Eine Stunde und dann musste sie wieder in der Gruppe sein.
Die Absprache funktionierte. Und als Mia an diesem Abend wiederkam, war sie so glücklich. Sie strahlte und berichtete freudestrahlend, dass Mama erzählt hatte, sie könnte nach Hause. Bald.
Jeder kannte die Mutter und alle wussten, dass sie unverlässlich war. Alle Betreuer warfen sich einen Blick zu.
Eine Woche später war das Abschlusshilfeplangespräch. Thematisiert wurde die Rückführung zur Mutter. Mia, total hibbelig. Die Mutter, zu spät. Herr Heinrich seufzte und blickte kopfschüttelnd seine Uhr. Benny saß neben Mia. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Der andere Platz neben Mia war noch frei. Freigehalten für ihre Mutter.
Und dann ging die Tür auf.
„Mama. Mama. Mama. Mama!", rief Mia und klopfte strahlend auf den Platz neben sich.
Herr Heinrich murmelte eine Begrüßung. Die Mutter sah ihre Tochter nicht an und setzte sie nicht neben sie. Sie setzte sich zwischen dem Betreuer und der Gruppenleitung. Benny warf Mia einen besorgten Blick zu, da diese augenblicklich verstummte. In ihrem Blick lag Traurigkeit und ein großes Fragezeichen.
Dass die Mutter fünfzehn Minuten zu spät kam und nicht einmal ihre Tochter begrüßte bestätigten Bennys schlechtes Gefühl.
Dennoch fuhr Herr Heinrich mit dem Thema fort.
„Also wir sind heute hier, um die Rückführung zu thematisieren."
Mias Augen strahlten. „Ja!", rief sie dazwischen. Seit vier Jahren war dies ihr größter Wunsch. Zurück zu Mama. Zurück nach Hause.
„So schnell geht das nicht!", äußerte sich die Mutter ziemlich plump. Dann fuhr sie unbeirrt weiter. Kühl. Emotionslose und kein Blick galt Mia.
„Ich muss noch ein Zimmer einrichten. Eine Arbeit suchen. Ei-"
„Du hast es versprochen!", schrie Mia plötzlich und lehnte sich vor. Benny warf ihr einen besorgten Blick zu.
„Ich-"
„Du hast es gesagt!", unterbrach Mia ihre Mutter laut. „Du hast es gesagt! Du hast es versprochen! Du hast es mir gesagt!"
Diese Zwei Wörter wurden immer lauter und wütender. Mias Finger krallten sich in die Stuhllehnen. Ihre Atmung wurde hektischer.
„Frau Fischer... können wir kurz vor die Tür gehen?", bat Herr Heinrich.
Die Beiden verließen schweigend den Raum und schlossen die Tür hinter sich. In dem Raum war Mia, die diese Worte immer wieder wiederholte.
Benny rutschte mit seinem Stuhl so hin, dass er sie direkt ansah. Dieser kleine Augenblick brach ihm das Herz. Denn praktisch starb dieses kleine Mädchen genau in diesem Moment vor seinen Augen. Er sah in ihren Augen die Verzweiflung, Traurigkeit und Wut. Unendliche Wut. Alles tobte in ihr. Und verdammt! Er konnte diese Emotionen sehr nachempfinden. Mitzuerleben wie eine Mutter ihr Kind verstoß, war das Schrecklichste, was einem passieren konnte.
Mia's Kinderseele zerbrach direkt vor ihm in tausend Stücke. Mia jetzt zu beruhigen war sehr schwierig. Ihre Augen wirkten leer. In diesem Moment war sie so zerbrechlich wie ein Weinglas. Wie ein Ei.
Vier Leute waren in dem Raum mit Mia. Benny reagierte instinktiv und zog das kleine Mädchen an sich. Er war derjenige, der die engste Bindung zu diesem Kind hatte.
Sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Dann Riss sie sich plötzlich los. Diese Stärke, die ein Kind in solcher Wut hervorbringen konnte war unglaublich. Unberechenbar. Genau das war das, was Mia soeben war. Unberechenbar. Sie kippte den Tisch um, mitsamt dem Geschirr, des heißen Kaffees. Tausende Scherben befanden sich auf dem Teppich. Sie schlug wild um sich, sobald man sie anfasste. Sie schmiss mit Stühlen. Und dann schnappte sie sich plötzlich einen Stuhl. Benny begriff die Situation zuerst. Genau in dem Moment in dem Mia den Stuhl durch das Fenster warf und das die Scherben des Fenster hinunterfielen und ein Klirren von sich gaben, hielt Benny sie in einem festen Griff. Drei Betreuer hielte dieses Mädchen fest. Die andere benachrichtigte den Notarzt. Egal wie sehr Mia sich wehrte, sie wurde nicht losgelassen.
Eine Woche später stand Benny in der Kinderpsychiatrie vor ihrem Zimmer. Er schaute durch das Fenster. Er sah, wie hilflos Mia wirkte. Benommen. Sie schlief und war verkabelt. Kabel an ihrem Kopf. Kabel an ihren Beinen. Kabel an ihrer Brust.
Herr Heinrich hatte kurz nach dem Vorfall zu einem Notfallmeeting berufen. Dort berichtete er von dem Gespräch mit der Mutter. Frau Fischer hat Angst vor Mia und möchte dieses Kind nicht zu sich nach Hause nehmen, da Anzeichen bestehen, dass ihre Geschwister ebenso werden. Benny war fassungslos und äußerte es auch. Wütend.
Jetzt wo er Mia hier so liegen war, fühlte er zu viel. Er hatte Mitleid. Er litt und er verlor die Distanz. Bei solch einem zerbrochenen Kind die Distanz zu wahren war sehr schwer.
War es richtig, dass Kinder wegen anderer leiden mussten? Immer in die Psychiatrie geschickt werden und mit Medikamenten vollgepumpt werden, weil wir als Eltern, Betreuer oder außenstehende Erwachsene nicht mehr weiter wissen? War das wirklich das Hilfesystem? Die Jugend oder Kinderhilfe?
Eine Menge Fragen schossen Benny durch den Kopf. Fragen die ihn seit dem Notfallgespräch nicht mehr losließen. Etwas musste sich ändern! Und wenn keiner es tat, dann würde er der erste sein, auch wenn das hieß, dass er die Wohngruppe verlassen musste.
Es konnte nicht sein, dass die Kinder litten, sie in ihrer Hilflosigkeit gefangen waren und innerlich zerbrachen, bloß weil die Eltern einen Fehler nach dem anderen machten.
Mia erfuhr vorerst nichts davon. Als sie entlassen wurde, war Benny bereits weg. Aber sie blich bloß noch zwei Tage dort. Zwei Nächte.
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Short StoryHier findet ihr ein Haufen Kurzgeschichten, die entweder im Rahmen verschiedener Challenges auf Belletristica entstanden sind oder einfach so aus Langerweile :D Es wird ein bunter Mix sein. Daher werde ich FSK 18 Spezial an den Kapiteln kennzeichne...