Erinnere dich

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Erinnere dich.

Erinnere dich an alles. Vor allem aber daran, wie stark du bist.
Erinnere dich daran, wie du mit dir selbst redest, weil keiner dich versteht.
Erinnere dich daran, wie du ein Jahr lang nicht geredet hast, weil niemand dir zuhörte.
Erinnere dich daran, dass du vor deiner Mutter weinen kannst, obwohl du nicht ehrlich zu ihr sein solltest. Erinnere dich an ihren genervten Blick, wenn du es tust. Erinnere dich auch daran, dass du genug von all den Lügen hast, die du ihr erzähltest. Erinnere dich, dass du es bereuen wirst, es je getan zu haben.

Erinnere dich.

Erinnere dich an all die fantastischen Bücher, die du in deinem Zimmer stehen hast. An all die unglaublichen Geschichten und Texte, die du je gelesen hast. Wie sie dich weiter entwickelt haben. Erinnere dich daran, wie du selbst geschrieben hast und zufrieden warst, stolz auf dich.

Erinnere dich daran, wie du dich selbst trösten musst. Wie du in den Spiegelbild schaust und dein teuflisch wütendes Gesicht siehst. Erinnere dich daran, dass du es geschafft hast deine Wut unter Kontrolle zu bringen, und nicht mehr getröstet werden musst.
Erinnere dich daran, dass du etwas wert bist, auch wenn du es nicht glaubst. Dass Menschen dich vermissen würden, dass du dich gezwungen fühlst, und dass du dich nicht umbringen kannst, so sehr du das auch willst.
Erinnere dich an all die Tränen, die du an deinen Geburtstagen vergossen hast. Aus vielerlei Gründen. Erinnere dich daran, wie besonders du dich gefühlt hast, an jenen Tagen. Wie viel Spaß du hattest, selbst wenn's auch nur für den Moment war.

Erinnere dich an die guten Momente im Leben. Die, die dir etwas bedeuten. Bruchstücke aus Momenten. Einzelne Gesichtsausdrücke, Worte, anderer Menschen. Deinen Freunden. Deiner selbst.
Erinnere dich an deine Haustiere, wie sehr du sie liebst und wie sehr du sie schätzt. Erinnere dich daran, wie sehr du sie beschützt und wie sentimental du wirst, wenn es um sie geht.

Erinnere dich daran, dass du dich selbst liebst. Dass du nicht umsonst so lange überlebt hast. Dass du phasenweise gefallen am Leben findest, es zu bekämpfen und zu siegen.
Erinnere dich daran, wie verzweifelt du versuchst immer offen und ehrlich zu sein - deinen engsten gegenüber. Wie verdammt schwer es dir fällt und wie du es dennoch irgendwie schaffst.

Erinnere dich bitte.

Erinnere dich daran, wie du dich selbst verletzt hast. Dich geritzt hast, so tief, dass das Blut nicht aufhören wollte zu fließen. Wie leer und ohne Gefühl du auf die schmerzende Stelle gestarrt hast, in den späten Stunden der Nacht, und wie du die Wunde immer weiter vergrößert hast, bist du keinen Sinn mehr darin sahst.
Erinnere dich daran, wie du deine Hände an den Hals gelegt hast, um dir die Luft abzuschnüren. Du wolltest es ausprobieren und hast verstanden, dass dein Überlebensinstinkt zu stark ist.
Erinnere dich daran, dass du nicht gegen die Gesellschaft kämpfst, sondern gegen dich selbst. Gegen deine Negativität, deine Probleme, deine Einstellung.

Erinnere dich, wie du als kleines Mädchen gerne geschaukelt hast. Wie du absolut nichts verstanden hast, was die Erwachsenen von dir wollten - wie sehr es dir egal war. Erinnere dich an die Geschichten, die du dir ausgedacht hast. Aus einfach Stiften wurden Familien, aus Kuscheltieren Welten und aus Besen Brücken. Wie fantasievoll du warst, wie viel Freude du dabei hattest. Wie gerne du mit anderen Kindern spielen wolltest, diese es aber nicht wollten. Wie anders du warst.

Erinnere dich daran, wie deine Eltern sich getrennt haben. Wie deine Mutter deinen Vater aus dem Haus gejagt hat, wie sie sich angeschrien haben. Wie du es unauffällig beobachtet hast.
Wie du deine Mutter gefragt hast, ob Papa wiederkommen wird. Wie sie dir gesagt hat, dass sie es nicht wisse. Wie sie dir in die Augen gelogen hat, als kleines Kind.
Erinnere dich daran, wie ehrlich du zu allen warst und welche Lügner alle waren. Erinnere dich daran, dass du immer weniger gesprochen hast, immer mehr gedacht. Wie du kaum noch Mimik zeigtest, kaum noch gelacht.
Erinnere dich an die Zeit, in der du bei deinem Papa gelebt hast, weil Mama in der Nervenheilanstalt war. Wie du dich um deine Schwester gekümmert hast, weil Papa es nicht konnte. Wie du Nachts wach lagst und Angst vor Papa hattest, weil er betrunken war. Laut. Aggressiv. Unmenschlich.
Erinnere dich an die eine Nacht, wo es dir egal war, weil du deinen Lieblingsfilm immer und immer wieder hintereinander geschaut hast - obwohl du ihn schon auswendig mitsprechen konntest. Erinnere dich, wie genervt deine Schwester von dem Film war, wie sie eingeschlafen ist und wie du ihn weitergeschaut hast.
Erinnere dich daran, dass du vor kurzem das selbe wieder getan hast. Ein und den selben Film immer und immer wieder hintereinander geschaut hast, weil er dir so gefällt. Weil er so unschuldig ist.

mind chaosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt