Familie

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Ich habe Angst. Nein, habe ich nicht. Doch, definitiv. Wahrscheinlich aber eher nicht.

Ich fühle mich eingeschlossen. Ich fühle mich unwohl. Prinzipiell fühle ich mich zu voll und gleichzeitig erstaunlich leer.

Familie war nie etwas für mich - erst recht nicht diese Familie, aber dennoch wollte ich eine Familie haben. Eine warme, liebende Familie. Gibt es solche überhaupt noch?

Meine Familie ist kaputt. Ich weiß nicht, wer sie kaputt gemacht hat, oder warum. Ich weiß nur, dass sie es ist, und das schon seit sehr langer Zeit. Meine Familie war nicht kräftig gebaut, sie war schon immer etwas schwächlich, schon vor vielen Generationen, und dennoch wurde sie grob behandelt und am Ende kaputt gemacht.

Meine armen Großeltern, meine armen Verwandten, meine armen Eltern, meine armen Geschwister. Aber vor allem - mein armes Ich.

Oma, du bist eine sehr sensible und liebenswürdige Frau. Du zeigst mir jedes Mal auf's neue, dass die Kleinigkeiten im Leben schön und einzigartig sind und dass Hass und Negatives nur nebensächliche Störungen des Gehirns sind.
Gerade deshalb. Gerade deshalb tut es jedes Mal auf's neue so verdammt weh, wenn du mich vergisst.
Wenn du vergisst, dass du mir die Geschichte deiner ersten Liebe schon tausend Mal erzählt hast. Ich höre sie mir immer wieder gerne an.
Dass eines deiner Söhne schon vor vielen, vielen Jahren gestorben ist. Oma.
Er wurde nie geboren.
Dass du alles langsam vergisst. Dass ich Angst habe, vollständig vergessen zu werden. Oma, bitte tu mir das nicht an. Tu uns das nicht an. Kämpfe, bitte.

Opa. Halte durch. Das schaffst du. Ich weiß, dein Körper sagt was anderes, aber bitte halte durch. Ich will dich doch endlich mal beim Schach besiegen. Dafür musst du aber durchhalten. Wenigstens noch ein paar Jahre. Überanstrenge dich doch nicht immer so sehr. Natürlich war dein Körper mal stark und robust, aber das ist er nicht mehr. Glaub an dich.
Egal wie viel du leiden musstest. Egal wie fies das Leben zu dir war. Du bist und warst stark. Glaube mir.

Onkelchen. Du bist der jüngere, und ich habe es immer geliebt mit dir zu spielen. Ich habe es geliebt deine Konsole zu benutzen und mich einfach in deinem Zimmer vor den anderen Erwachsenen zu verstecken. Ich vermisse das so sehr.
Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, ob ich vielleicht der Grund bin, dass du dich von allen abgeschottet hast, wenn ja tut es mir leid. Hörst du? Es tut mir leid! Komm zu mir zurück. Versinke nicht in dem Loch, welches versucht dich einzuziehen. Ich brauche dich. Du warst der einzige, der keine unangenehmen Fragen gestellt hat. Der einzige, der mich so akzeptiert hat, wie ich war. Der einzige, der meine Liebe zu Anime versteht.
Du darfst mich nicht verlassen, das ertrage ich nicht.

Großer Onkel. Vor dir hatte ich immer großen Respekt. Du standest an meiner Seite, als die erwachsene Welt gegen mich war. Als ich von meiner eigenen Mutter verhöhnt wurde, als sie meine Argumentation nicht hören wollte, da standest du mir bei.
Warum also hast du mir verboten, dir beizustehen? Warum hast du mir nie gesagt, dass du im Gefängnis warst? Warum hast du mir die Chance genommen, für dich da zu sein? Meine Schuld bei dir zu begleichen? Warum? Ich verstehe es nicht. Ich war kein Kind mehr. Ich war selbst als Kind kein Kind mehr. Warum also? Warum, warum, warum.

Papa, fangen wir mit dir an. Du bist ein beschissener Vater, ein schlechter Ehemann und ein noch viel unangenehmerer Mensch. Aber ich habe dich dennoch lieb, weil ich weiß, dass du mich lieb hast. Klar, die Kluft zwischen uns ins mittlerweile so groß und tief, dass wir sie nicht mehr einfach ignorieren können, aber daran sind wir beide Schuld.
Du warst nie ein guter Vater. Du warst nie wirklich da. Und trotzdem warst du derjenige, der mir das Fahrrad fahren beibrachte, der mir zeigte, wie man Schränke zusammenbaut, der mich das Backen gelehrt hat und der mich immer, bei allem, unterstützt. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, ohne dich leben zu müssen. Gleichzeitig weiß ich, dass das Leben für dich unerträglich ist. Ich kann dich beruhigen, daran trägst du nicht die Schuld. Aber du könntest es ändern. Konntest es zumindest. Ich weiß ja nicht mal mehr, wo du wohnst. Da kann ich nicht wissen, wie es um dich steht. Es tut mir leid.

Mama. Zu dir will ich eigentlich gar nichts schreiben. Du hast mir paranoid gemacht. Egal wo ich bin, egal was ich denke, egal was ich tue - immer bist du präsent und ermahnst mich. Immer hast du was an mir auszusetzen. Immer gefällt dir etwas nicht.
Du meinst, du willst nur das beste für mich. Du meinst, es sei gut so. Schwachsinn. Totaler Schwachsinn, sag ich dir. Du hast mich erzogen, danke. Du hast mich in die Welt gesetzt, ja, aber darum habe ich dich nie gebeten, also schulde ich dir rein gar nichts. Außer theoretisch einen Haufen Geld.
Man könnte dich so beschreiben: egal was du tust, du begründest es mit "Gott will es so" und wenn es dazu kommt, dein eigenes Kind aus dem Haus zu jagen, wirst du es tun. "Weil Gott es so will."
Fick dich, Mama.

Schwester. Ich kenne dich kaum, das ist eigentlich total schade. Du bist bestimmt eine ganz nette Person, wenn du jetzt schon so viele Kinder hast, bist du bestimmt auch ein liebevoller Mensch. Ignoriere den Fakt, dass wir nicht die selbe Mutter teilen, sei froh. Meine willst du nicht.
Ach und sei uns nicht böse, dass Papa dich nicht sehen kann, das ist nicht unsere Schuld.

Schwesterchen. Ich wurde deiner gesegnet, Jahre nachdem du geboren wurdest. Ich habe dir sehr weh getan. Es tut mir leid. Es tut mir, aufrichtig, leid. Ich weiß, eine Entschuldigung reicht nicht. Ich bitte dich trotzdem mir zu verzeihen. Irgendwann.
Schließlich bessert sich unser Verhältnis jetzt. Sei nicht so nachtragend, das tut dir nicht gut.

Ich. Du. Wie auch immer. Akzeptiere deine Familie endlich und sieh ein, dass sie kaputt ist. Kaputtes hat doch etwas für sich. Es erzählt seine eigene Geschichte.

Alles hat seine eigene Geschichte. Nicht jede ist nun mal mit Blumen am Wegrand geschmückt. Finde dich damit ab.

mind chaosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt