Sie saß auf dem Hügel und beobachtete den Sonnenuntergang. Der wunderschöne Farbverlauf über den riesigen Grasflächen und der immer dunkler werdender Himmel faszinierten sie und sie konnte - und wollte - ihren Blick nicht abwenden.
Ihre Beine umschlungen und mit dem Kinn auf ihren Knien hielt sie die Scherbe in der Hand, mit der sie noch vor wenigen Momente ihre Haut aufgeschnitten hat. Doch fragte sie sich, warum sie das getan hat. Es änderte doch nichts daran, dass sie sich so leer und hilflos fühlte. Es änderte nichts daran, dass sie von niemanden geliebt wurde und vollkommen alleine war. Es stoppte die anderen Kinder nicht, sie so fies zu behandeln und so gemeine Sachen zu ihr zu sagen.
Es war komplett nutzlos, das einzige, was es brachte war der leichte Schmerz und die Tränen der Verzweiflung, die schon längst auf ihren Wangen getrocknet waren.
Sie hoffte, dass die Wunder verheilte, bis sie wieder nach Hause kam. Sonst würde ihre Mutter unglaublich wütend und böse werden, und das machte ihr furchtbare Angst. Denn sobald ihre Mutter wütend wurde, schlug sie das Mädchen oder sperrte es auf den Balkon.Sie wollte immer von zu Hause weg, darum fuhr sie jedes Mal bei diesen Ferienfreizeiten mit, obwohl sie wusste, dass dort nur gemeine Kinder waren, die sie ärgerten und schikanierten. Aber alles war ihr lieber, als zu Hause zu sein. Es war ihr sogar lieber, dass ihre Schwester sich auf die Seite der anderen Kindern stellte und sie genauso fies behandelte, als zu Hause bei ihrer Mutter sein zu müssen.
Sie liebte ihre Schwester, sie würde alles für sie tun, aber mit diesem Gefühl war sie die einzige.Das Mädchen war so in Gedanken vertieft, dass sie die andere Person erst bemerkte, als die sich schon neben ihr auf den von Gras bedeckten Hügel setzte. Erschrocken fuhr das Mädchen herum um zu schauen, wer das war und versuchte erfolglos die Scherbe zu verstecken.
Doch die Betreuerin bemerkte die Scherbe und auch die Wunde, lächelte das Mädchen aber aufmunternd an. "Schöner Sonnenuntergang, nicht wahr?", fragte sie. Stumm schauten beide zum Horizont, an dessen Himmel sich bereits ein dunkles Orange zeigte.
Diese Betreuerin war dem Mädchen die liebste von allen. Die anderen beiden Frauen waren viel zu stark geschminkt und trugen total einschüchternde Klamotten, die eine ständig bauchfreie Oberteile und extrem kurze Shorts und die andere komplett in Schwarz gekleidet mit Metallketten und allerlei Piercings. Und der ältere Mann machte ihr Angst. Ältere Männer machten ihr grundlegend Angst, deswegen hielt sie sich so gut es ging von ihm fern und sie bezweifelte, dass er sich überhaupt an ihren Namen erinnern konnte.Jessica, die Betreuerin, die nun bei ihr saß, war die netteste und angenehmste. Sie trug immer farbenfrohe T-Shirts und total weite Hosen, das lenkte irgendwie vom Grauen des Alltages ab, dachte das Mädchen. Ihr gefiel es. Viel mehr, als ihre eigenen Klamotten, die alle grau waren.
"Du solltest das mit den selbst verletzten sein lassen. Wolltest du nicht Pädagogin werden? Als Pädagogin macht das keinen guten Eindruck, wenn man nicht einmal mit sich selbst klar kommt, weißt du?", versuchte Jessica nochmal ein Gespräch anzufangen.
Das Mädchen wunderte sich, dass Jessica sich an ihren Zettel erinnerte, auf dem man am Anfang, zum Kennen lernen, den Wunschberuf aufschreiben musste. Gleichzeitig kamen ihr die Worte von Jessica komisch vor, da eine andere Betreuerin auch Narben am Unterarm trug, ganz viele und tiefe, die sie mit Tattoos zu verstecken versuchte.Jessica drehte sich im Schneidersitz und schaute das Mädchen eindringlich an. "Was haben die anderen Kinder denn gemacht?", wollte sie wissen. Beschämt und traurig senkte das Mädchen ihren Blick und starrte auf ihre Beine. "Heute Morgen hat mir mein Zimmergenosse Wasser über den Kopf geschüttet und mich somit geweckt. Und als ich nach dem Frühstück wiederkam waren meine ganzen Klamotten ebenfalls durchnässt. Als wir dann draußen spielen durften wollte ich zur Hütte, um sie zu erkunden, aber da waren ein paar Kinder, die mich nicht reinlassen wollten und haben mich auf den Boden geschubst. Der Boden war voller Scherben und Glassplitter und damit haben mich die Kinder dann auch beworfen, bis ich weggerannt bin. Beim Mittagessen hat mir dann einer dieser doofen Jungs ins Essen gespuckt und ein Mädchen hat meinen Stuhl weggezogen, sodass ich wieder hingefallen bin. Als ich mich dann im leeren Zimmer versteckt habe, um zu weinen, haben sie mir böse Schimpfwörter durch die verschlossene Tür zugerufen.", erzählte das Mädchen. Zum Ende hin schluchzte sie auf und die Tränen fingen wieder an zu fließen.
Das Mädchen fragte sich, warum eigentlich immer sie schikaniert wurde. Was war an ihr so falsch? Sie trug keine außergewöhnlichen Klamotten, war nicht gemein oder besonders laut und nur weil sie nicht gerne mit Puppen spielte, war das doch kein Grund sie so zu behandeln. Sie mochte es ja auch nicht, wenn andere im dreckigen See schwammen, aber deswegen beleidigte sie sie doch nicht. Sie verstand es nicht.
Verlegen schaute sie Jessica an und dieser entging der hilfesuchende, verzweifelte Ausdruck in dem Blick des gerade mal 10-jährigen Mädchens nicht. Mitleidig hob Jessica die Hand mit der Absicht, das Mädchen am Kopf zu streicheln, doch diese zuckte zurück und schaute beängstigt drein. 'Was musste das arme Mädchen bloß schon alles durchmachen?', dachte sie sich und ließ die Hand wieder sinken. Sie hatte schon alles getan, was sie tun konnte, um den Mädchen irgendwie zu helfen. Sie hat mit den Kindern geschimpft und die anderen Betreuer gebeten, genauer hinzusehen, doch es half alles nicht wirklich. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und stand auf, hielt dem Mädchen ihre Hand hin und sagte: "Steh auf, es ist schon spät. Du musst genau wie die anderen auch schlafen gehen. Morgen ist ein neuer Tag, vielleicht wird morgen ja alles besser!", versuchte sie das Mädchen aufzumuntern. Sie würde in ihrer Nähe bleiben und darauf achten, dass niemand ihr weh tut, das versprach sie sich selbst und dem Mädchen.
Aber am morgigen Tag wurde nichts besser.
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mind chaos
DiversosGedanken. Chaotische Gedanken, ganz ohne Sortierung, ganz ohne Zusammenhang. Das reinste bla-bla-bla, wie eine Bombe. Eine Bombe, die Chaos verursacht. BOOM!