Unsere hehre Familienhistorie

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"Wenn du dieses Mal auch einfach wieder verschwindest, während ich zu erzählen beginne, kann ich es mir auch sparen. Ich habe nämlich tatsächlich Besseres zu tun, als dir unsere Familienhistorie und meine eigene Geschichte darzulegen." Tom schenkte mir einen hochnäsigen Blick.

Ich glaube, ich hatte meinen Großgroßcousin sehr damit beleidigt, dass ich im Zug durch Clarisses Trick mit dem Wasserglas aufgewacht war, bevor er seine Erzählung beendet hatte. Oder überhaupt begonnen hatte.

Wahrscheinlich hatte er ohnehin damit zu kämpfen, schon in einem solch zarten Alter im Tartaros eingekerkert zu sein und das, wo er doch so hochstrebende Ziele und Ambitionen gehabt hatte. Ich war wohl das erste lebende, menschliche Individium mit dem er seit langem reden konnte und dann verließ ich ihn einfach wieder unangekündigt. Und das, obschon wir verwandt waren.

Außerdem wusste ich jetzt schon, dass er eine sehr fordernde Persönlichkeit besaß, er war auch sehr fesselnd und das nicht ohne Grund: Er braucht Aufmerksamkeit und Respekt, das Gefühl, wahrgenommen zu werden und besonders zu sein. Zwar betonte Tom selbst immer wieder, wie außergewöhnlich er war, aber vielleicht wusste er nicht mehr, ob er log oder die Wahrheit sagte.

Zumindest ging es mir manchmal so.

"Ich höre dir gerne zu", versuchte ich ihn zu besänftigen. Nach der langen Zeit, die er nun schon tot zu sein schien, war er wohl ausgehungert nach Komplimenten, Aufmerksamkeit und Bestätigung, obwohl er sich dies auch selbst schenken konnte. Tom war nicht darauf angewiesen, aber jeder wurde gern wahrgenommen.

"Wir stammen von einer alten, mächtigen Reinblutfamilie ab, den Gaunts. Die Gaunts waren direkte Nachfahren von Salazar Slytherin, außer seiner Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen, hatten sie kaum etwas von ihm geerbt. 

Die Familie Gaunt war dafür bekannt, durch Verheiraten von Cousins den Wahnsinn im Blut zu haben, mit Salazar Slytherins Genialität hatte das nicht mehr viel zu tun.

Die letzten Gaunts, Merope und Morfin zusammen mit ihrem Vater Marvolo, bildeten da keine Ausnahme.

Morfin war womöglich der Verrückteste von ihnen allen, auf jeden Fall hat auch er den Namen unserer Familie beschmutzt. Er war unbeherrscht, abstoßend, hat oft zu tief ins Glas geschaut. Als er einmal wieder betrunken war, konnte Morfin einen dreckigen Muggel wohl nicht mehr von einem Reinblut unterscheiden, was ja schon einmal für ihn spricht." Toms Stimme troff nur so von Sarkasmus.

"Deine Urgroßmutter war eine amerikanische Touristin, frag mich nicht, was sie in einem Loch wie Little Hangleton wollte...

Meine Mutter, Merope, ist erbärmlich bei der Niederkunft verreckt, nachdem mein jämmerlicher Muggelvater sie verlassen hat, weil sie ihm keinen Liebestrank mehr untergejubelt hat."

Oha. Okay. Ich hatte mich nie wirklich mit Moms Seite der Familie auseinandergesetzt, ihre Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt und sonst hatte sie keine Verwandten. 

Naja, außer Tom, aber der war ja auch tot.

Nachdem Toms Mutter gestorben war und sein Vater Merope verlassen hatte, war er allein gewesen, vermutlich in einem Waisenheim aufgewachsen. Dass er dort viele Freunde gehabt hatte, bezweifelte ich, seine Verachtung normalen Sterblichen gegenüber sprühte aus jeder seiner Poren, während er sprach.

Tom war besonders und er verabscheute alles, das es nicht war. Alles, das ihn daran erinnerte, dass auch er einen normalsterblichen Teil in sich trug, das Erbe seines Vaters.

Aber während Tom von seinem Vater die Durchschnittlichkeit, Normalität eines Muggels, eines Sterblichen geerbt hatte, trug ich das Meer in mir, sein Rauschen und seine unbekannten Tiefen, das Blut von Pferden, Gischt und Wellen, das gewaltsame Reißen von Erdbeben und die Stimmen aller Wasserwesen.

Tom mochte zwar besonders sein, aber er war noch immer sterblich, während göttliches Blut durch meine Adern floss und mein menschliches irgendwann ganz verdrängt haben würde.

"Meine Eltern sind eine herbe Enttäuschung; meine Mutter schwach trotz ihres reinen Blutes, mein Vater ein dreckiger Muggel. Aber das änderte nicht daran, dass ich zu Großem bestimmt war. Ich wollte die Welt verändern."

Das war doch was Gutes! Nur, dass Gaia und Kronos das auch gewollt hatten.

"Das Ding ist, sobald ich meinen ersten Horkrux geschaffen habe, bin ich hier gelandet. Als wäre es das größte Verbrechen, das man begehen könnte, wenn man einen Teil seiner Seele abspaltet und in einem Notizbuch aufbewahrt!"

Das klang wie etwas, das ein psychopathisches Teenie-Mädchen tun würde, nur eben mit ihrem Tagebuch. Ich wettete, das war Toms Tagebuch gewesen und er war zu maskulin, um es einzugestehen. Aber trotzdem, das war abgedreht.

"Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass das moralisch nicht ganz korrekt von dir war und du deshalb hier bist, immerhin ist die Seele so etwas wie... keine Ahnung, heilig oder gottgeschaffen oder so. Wofür hast du deine Seele überhaupt gespalten? Einfach so? War dir langweilig? Ist das dein Hobby?" 'Was darf es denn heute sein?' 'Oh, ich möchte etwas Abwechslung, also keinen Banana-Split... Wie wär's mit einem Soul-Split?

"Um Unsterblichkeit zu erlangen."

Irgendwo überraschte es mich nicht, dass Tom ebenjenes Ziel angestrebt hatte, um sich von anderen abzuheben. Denn unsterblich zu sein, kam der nicht endenden Existenz eines Gottes nahe und wer stand über einem Gott? Würde nicht das Blut eines solchen durch meine Adern fließen, hätte ich diese Frage wohl mit "niemand" beantwortet. 

Gottsein bedeutete Macht und ewiges Leben. Respekt und Einsamkeit. Ich war mir sicher, Tom kannte jeden dieser Aspekte, lebte vielleicht sogar für sie.

Oder hatte es zumindest getan.

"Was ist schiefgegangen? Warum regierst du hier unten, anstatt dein Zepter oben zu heben?" Ich betrachtete ihm. Er glich seinem Thron: wunderschön, aber irgendwo furchteinflößend und bedrückend. Schön und tot.

"Heute bist du ja ziemlich poetisch, mein lieber Groß-Großcousin. Zu viele Zuckerkiele verspeist? Die verursachen das manchmal." Er musterte mich, aber nicht, als ginge es ihm um meine dramatischen Äußerungen. Ich wusste nicht, ob Tom fand, was er suchte. "Ich bin natürlich nicht tot umgefallen, nachdem ich meinen ersten Horkrux erschaffen habe. Dann hättest du ja wohl etwas von einem Starschüler gehört, der einfach verschwunden ist.

Mein Körper hat weitergemacht, aber meine Seele, ich, bin in diesen stinkenden Abgrund gefallen. In meinem Körper war nur mehr die Projektion einer Seele und damit schien er nicht besonders gut umgehen zu können.

Er hat immer neue Horkruxe geschaffen, sein Machthunger wollte kein Ende nehmen und mein Körper hat sich selbst zerstört."

Ich konnte Tom ansehen, dass er eigentlich genauso gehandelt hätte wie sein seelenloser Körper, er aus dem Geschehenen aber eine Lehre gezogen hatte. Er wäre schließlich nie so weit gekommen, besäße er keine Lernfähigkeit.

"Ohne seine Seele konnte mein Körper nicht sein ganzes Potential entwickeln, geschweige denn ausschöpfen. Ich bin als Gescheiterter in Erinnerung geblieben, sie denken, sie hätten mich besiegt, als ich auf dem Gipfel meiner Macht war-", Tom bannte mich mit seinem brennenden Blick und kurz dachte ich, seine Augen würden leuchten, obwohl das natürlich Blödsinn war, "-aber sie haben nur mit einer schwachen Kopie meiner Selbst gerungen, die ihre Möglichkeiten nicht einmal im Ansatz ausgeschöpft hat."  



(frohe Ostern)

Serendipity // PJOWo Geschichten leben. Entdecke jetzt