3. Ein sehr, sehr egoistischer Wunsch

10 2 0
                                    

Die Gruppe folgte einem der zahlreichen Wanderwege, die an den Bergketten entlangführten. Das letzte mal hatten sie fast eine Dreiviertel Stunde gebraucht, um die Höhle zu erreichen. Die Stimmung unter ihnen war heiter. Gansey summte ein Lied, Blue pflückte Blumen, die am Wegrand wuchsen, Ronan kickte kleine Steine vor sich her und Adam blieb immer wieder stehen, um auf seiner Landkarte den Weg zu identifizieren. Auch Noah schien nicht mehr ganz so betrübt wie vorhin. Er hielt immer noch Blues Hand und nahm die Wildblüten, die sie ihm in die freien Finger reichte lächelnd an.
„Gansey", setzte Adam nach einer Weile an, „Was würdest du tun, wenn wir Glendower finden würden?" Gansey sah in überrascht an. „Du meinst heute? Was ich tun würde, wenn wir ihn jetzt finden würden?" Adam nickte. Gansey schien kurz zu überlegen und sagte dann: „Mir etwas wünschen wahrscheinlich. Die Gunst einlösen." Adam blieb stehen und sah Gansey an, als wollte er aus seinem Gesicht lesen wie aus einem Buch. „Aber was würdest du dir wünschen, Gansey?" Das schien Gansey zu überrumpeln. „Ich", er machte eine Pause und sprach dann weiter, „Ich würde mir wünschen, dass Noah wieder wirklich lebt. Also so richtig, meine ich." Die Gruppe schwieg. Obwohl sie nichts sagten waren sie sich alle einig. Es war wie ein Pakt, den sie im Stillen schlossen. Wenn sie Glendower fänden, wäre das die Gunst. Noah sollte wieder leben.

„Nein", flüsterte plötzlich eine Stimme. Noah hatte sich von Blues Hand gelöst und trat einen Schritt zu Gansey. Es war als würde ein Fernseher flackern. „Verschwendet eure Gunst nicht so einfach. Ihr könntet euch Weltfrieden wünschen. Ihr könntet Hungersnöte stoppen. Das wäre ein sehr, sehr egoistischer Wunsch." „Manchmal lohnt es sich egoistisch zu sein, Noah", erwiderte Adam. „Wer weiß, vielleicht hat Glendower gar nicht Macht so große Dinge wie Weltfrieden zu bewirken?", überlegte Ronan. „Das ist nicht der Punkt!" Noah kam jetzt richtig in Rage. Er war vollkommen aufgewühlt und raufte sich das dünne, helle Haar. „Ihr müsstet es versuchen! Ich will nicht, dass ihr diese Gunst für mich verwendet. Ich bin nicht wichtig. Weltfrieden und Hungersnöte sind nichts im Vergleich zu meinem Leben." Zu Ende seiner Predigt war Noah immer leiser geworden. Nun schien er vollkommen erschöpft, als hätten ihn diese Worte unendlich viel Kraft gefordert. Blue sag ihn prüfend an. Er atmete viel zu schnell, so schnell, dass es einer Panikattacke gleichkam. Sein eh schon blasses Gesicht wurde noch farbloser, fast durchsichtig. Er schien sich vor ihren Augen aufzulösen. Allerdings nicht wie sonst. Noah löste sich oft auf, aber dann war es eher wie ein Schnitt in einem Film, er war plötzlich einfach weg. Nun verblasste er langsam und sein Stöhnen ließ die anderen seine enormen Schmerzen erahnen. Kurz bevor er ganz verschwunden war -er war mehr Nebel als feste Materie- sankt er zu Boden und stieß einen Schrei aus, der so markerschütternd war, dass Blue sich erschrocken an Gansey klammerte. Noah oder besser gesagt, das was von Noah übrig war, kauerte nun wie ein Embryo auf dem Wanderweg immer noch stöhnend und ächzend.
Adam erwachte als erster aus seiner Schockstarre. „Noah!", rief er aufgebracht, „Was ist los Noah?!" Nun setzte sich auch Ronan in Bewegung. Er ließ sich neben dem zusammenrollten Körper auf die Knie fallen und streckte langsam seine Finger nach Noahs Arm aus. Seine Hand glitt durch ihn hindurch wie durch Rauch. „Noah?", flüsterte Blue und ging ebenfalls auf ihn zu. Sie schluckte schwer und setzte sich dann im Schneidersitz neben Ronan, direkt vor Noahs Gesicht. Vorsichtig strich sie über seine Nebelhaut und schloss dabei die Augen. „Gibst du ihm Energie?", fragte Gansey leise, als könnte er sie durch seine Frage ablenken oder stören. Blue nickte.

Dann, nach ein paar Augenblicken völligen Schweigens öffnete sie resigniert die Augen und blickte verzweifelt in die Runde. „Es funktioniert irgendwie nicht... Er kann meine Energie nicht aufnehmen. Fast als... wäre er gar nicht wirklich hier." Beim letzten Wort wurden ihre Augen glasig und Adam zog sie hoch und nahm sie in den Arm. Obwohl Adam und Blue eine schwierige Vergangenheit hatten, schlugen sie sich ganz gut. Fast war alles wie früher, sie konnten wieder Körperkontakt haben ohne, dass Blue sich schlecht fühlte oder Adam sich Hoffnungen machen würde.
Ronan stand nun ebenfalls auf. „Was machen wir jetzt?", fragte Gansey. Es kam nur selten vor, dass Richard Campbell Gansey III nicht wusste, was zu tun war und auch das machte Blue Angst. „Wir gehen in den Foxway." Alle Augen richteten sich auf Adam, der anscheinend selbst überrascht über seine Entschlossenheit war. Aber er hatte Recht: Wenn irgendjemand Noah helfen konnte dann waren es die Wahrsagerinnen aus dem Foxway 300.

„Aber wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen!", protestierte Blue. Adam sah verzweifelt aus. „Wenn wir ihn nicht mal berühren können, wie sollen wir ihn dann in den Foxway bringen?" „Bullshit", fluchte Ronan. Gansey raufte sich die Haare und lief auf und ab, als könnte ihm das die entscheidende Idee bescheren. „Glaubt ihr Noah kann ganz verschwinden und im Foxway wieder auftauchen?", überlegte er. „Ich weiß nicht...", antwortete Adam. Blue ließ sich wieder neben Noah nieder und ihre Hand über ihm schweben. „Noah hörst du mich?", fragte sie deutlich. Noah antwortete nicht, allerdings öffnete er die Augen einen Spalt breit und sah sie verängstigt an. „Noah kannst du versuchen in den Foxway zu kommen?" Ein kleines, unsicheres Nicken.
„Okay", flüsterte Blue und richtete sich dann wieder auf. Sie blickte in die Runde. Alle standen irgendwie verhalten und peinlich berührt um Noah und sie herum. „Na dann mal los, oder?", brach Ronan die Stille,  „Sonst ist der kleine Lahmarsch noch vor uns da."

fading - the raven cycleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt