2. Auf den billigen Plätzen

20 3 0
                                    

Um halb neun saßen sie alle an einem kleinen Ecktisch im Nino, jeder mit einem Teller Blaubeerpfannkuchen vor sich. Alle außer Noah, der nicht essen musste. Blue hatte ihm allerdings einen Vanille-Milchshake bestellt, damit er sich nicht so ausgeschlossen fühlte. Jetzt saß er schon eine ganze Zeit unruhig auf seinem Platz und spielte mit seinem Strohhalm. „Was ist los Noah?", fragte Adam skeptisch. Noah wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. Blue kannte dieses Verhalten von ihm, es hieß meistens, dass es nicht darüber reden wollte. Sie würde später nochmal nachhaken. „Also", ergriff Gansey das Wort, um die unangenehme Stille zu füllen.  „Was steht für heute auf dem Plan?" Niemand antwortete, wohl wissend, dass er ihnen genau das gleich detailliert schildern würde. Da lagen sie gar nicht falsch. „Ich habe nachgedacht und ich bin der Meinung, dass wir nochmal in den Naturschutzpark gehen sollten. Irgendetwas sagt mir, dass wir diese Höhle genauer unter die Lupe nehmen müssen." Ronan stöhnte, nickte aber. Auch alle anderen schienen einverstanden. Adam schnitt sich ein Stück von seinen Pfannkuchen ab, schob es sich in den Mund und kaute eine Weile darauf herum, bevor mit wieder leerem Mund anmerkte: „Ich muss um zwei arbeiten." Er senkte den Blick betreten wieder auf sein Essen und betrachtete die sirupüberzogenen Teiglinge, als hätte er noch nie etwas so interessantes gesehen. Bis dahin sind wir wieder da, versicherte ihm Gansey und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Sie alle wussten, dass Adam sich dafür schämte, der einzige zu sein, der mit seinen unregelmäßigen Arbeitszeiten immer irgendwelchen Plänen im Weg stand. Als sie alle ihr Frühstück verputz hatten (Blue nur mit Ronans aufopfernder Hilfe, da sie ja schon einen Joghurt gegessen hatte und nun so voll war, dass sie keinen Bissen mehr hinunter bekam), bezahlten sie und stiegen letztlich alle in Ganseys orangenen Camaro Pig. Gansey hinterm Steuer, neben ihm Adam und auf der Rückbank Blue zwischen Noah und Ronan. Während der Fahrt berührte Noahs Bein leicht Blues und ein kleiner Schauer durchfuhr sie, aber nicht nur wegen seiner niedrigen Körpertemperatur, die auf sie überging.

Noahs Atem ging unruhig und es kostete ihn eine enorme Menge an Energie, um weiterhin sichtbar zu bleiben. Er hasste es von Blue abhängig zu sein, besonders weil sie sich nie über die Kälte beklagte, die er verströmte, aber er wusste, dass sie sie spürte, auch wenn sie so tat, als würde sie es nicht. Er fühlte sich von Tag zu Tag schwächer und das schlimmste war, dass er nicht wusste warum. Auch sein Aussehen wurde immer weniger menschlich, das merkte er an dem besorgten Blick, den Blue ihm jedes mal zuwarf, wenn sie glaubt, dass er gerade mal nicht hinsah. Blue. Sie saß so dicht neben ihm auf der engen Rückbank, dass er ihren Geruch nach Kräutern und Wildblumen mit jedem Atemzug in sich aufnahm. Er versuchte sich auf sie zu konzentrieren anstatt auf das Ziehen in seinen Gliedern, die ihm ankündigten, dass er es nicht mehr lange aushalten würde sichtbar zu bleiben. Er wollte nicht verschwinden. Er wollte hierbleiben, so eng an Blue gedrückt, dass ihre kurzen Haarsträhnen ihn an der Schulter kitzelten. Sie war gerade in eine heftige Diskussion mit Ronan vertieft, weil sie ihm verbieten wollte seinen "beschissenen Elektroschrott von Musik" zu spielen. Eigentlich mochte Noah Ronans Musikgeschmack. Er war anders als der meiste Mainstream und wenn er sich nur auf den Bass in seiner Magengrube und die Beats in seinen Ohren konzentrierte, vergaß er sogar manchmal, dass er eigentlich nicht hierhin gehörte. Blue neben ihm sagte etwas von "Vergewaltigung ihrer Trommelfelder" und riss Ronan sein Tape aus der Hand. Blue konnte so intensiv sein, wie sie mit Ronan stritt oder leidenschaftliche Vorträge über Feminismus hielt. Sie war das Gegenteil von Noah, dann sie war in jeder Hinsicht zu einhundert Prozent lebendig. Nun mischte sich auch Gansey in den Streit ein: „Hey, ihr da hinten auf den billigen Plätzen, kann man euch nicht mal zwei Sekunden nebeneinander sitzen lassen, ohne dass ihr einen Krieg anzettelt? Ich würde mich ganz gerne auf die Straße konzentrieren." Ronan lachte dreckig und spottete: „Dick, du hörst dich an wie mein Opa. Bei dem darf man sich im Auto auch nicht unterhalten, weil er sich auf die Straße konzentrieren muss. Jane hier und ich halten doch nur einen kleinen Plausch. Nicht wahr Jane?" Gansey warf ihm einen genervten Blick durch den Rückspiegel zu und verdrehte die Augen, aber er war nicht wirklich sauer. Ronan zog ihn gerne mit seinem gestelzten und so typischem erwachsenen Verhalten auf. So waren Gansey und Ronan nun mal. Darauf basierte quasi ihre Freundschaft. Letztendlich schaltete Adam das Radio ein und lauschte interessiert eine Dokumentation über antike Bauten und ihre historischen Hintergründe. So war Adam nun mal. Blue blickte verträumt in die Landschaft und zeigte jedes mal aufgeregt aus dem Fenster, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. So war Blue nun mal. Und Noah saß neben ihr, betrachtete die ganze Szenerie und kam sich fehl am Platz vor. Zu wenig, um sich in einer Gruppe, die so viel mehr war, nur annähernd dazugehörig fühlen zu können. So war Noah nun mal. Und trotzdem akzeptierten sie ihn. So wenig er auch sein mochte, für sie war er genug. 

Nach 20 Minuten Fahrt bog der Camro in eine kiesbestreute Auffahrt ab, die zum Parkplatz des Nationalparks führte. Gansey bezahlte den Eintritt für sie alle ohne zu fragen oder es auch nur anzukündigen. Adam protestierte lauthals und hielt ihm die drei Dollar 50 hin. Gansey machte nicht die Anstalten sie anzunehmen. Resigniert lies Adam die Hand sinken und grummelte etwas davon, er würde nächstes mal für Gansey bezahlen. Achtung Spoiler: Gansey würde ihn nicht lassen.

Als sie alle aus dem Auto gestiegen waren, machten sie sich daran den Kofferraum auszuladen. Wie immer hatte Gansey seine gesamte Ausrüstung in Rucksäcke gepackt, die er jetzt an alle Anwesenden verteilte. Nur für denn Fall.. Nur Noah schüttelte den Kopf als Gansey ihm die Tasche hinhielt. Anstatt weiter nachzufragen, nickte dieser nur und verstaute ihn wieder in Pigs Innerem. Blue hielt Noah eine Hand hin, die er nur zögernd ergriff. „Bist du sicher?", fragte er vorsichtig. „Ja, Noah. Ich bin sicher.", versicherte ihm Blue. Oh Gott, wie er es hasste von Blue abhängig zu sein. Aber ihre warme Hand in seiner kalten fühlte sich so gut an. Nicht nur weil sie ihn wärmte und er sich mit jeder Sekunde mehr wie er selbst fühlte. Blues Haut war weich und ihr Griff sanft, aber bestimmt. Sie würde ihn nicht loslassen, bis es ihm besser ging. Noah liebte Blues Bestimmtheit. Und ihre weiche Haut. An guten Tagen konnte Noah in ihrer Gegenwart fast wieder spüren, wie es war am Leben zu sein. Es war schwer zu beschreiben, aber Noah war eben nicht ganz tot. Allerdings lebte er auch nicht. Er existierte viel mehr. Und das war eben nicht dasselbe, auch wenn er sich selbst manchmal einzureden versuchte, das wäre es.

fading - the raven cycleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt