13. Irrlichter

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Blue stand vor dem Wald. Er rief sie. Sie sollte kommen. Vor ihr reckten sich die ersten Bäume in den sternenklaren Himmel, dahinter eine lockende Dunkelheit. Sie musste gestehen, dass der Anblick ein wenig furchteinflößend war. „Blue?" Adam stand direkt hinter ihr. „Ich kann nicht mit dir kommen. Aber ich warte hier auf dich. Du schaffst das." Blue nickte unsicher. Die Frage war nicht, ob sie stark genug war das hier durchzuziehen, denn sie hatte keine Wahl. Sie musste es schaffen. Für Noah. Bis hier hin hatte ihre Gewissheit sie gelenkt. Nun war sie auf sich allein gestellt. Sie machte den ersten Schritt zwischen die Bäume.
Sofort umgab sie eine samtige Dunkelheit.

Es war nicht gruselig. Es war eine umarmende Schwärze. Sie beschützte sie vor ihren eigenen Angst. Blue war froh, dass es dunkel war. Nur- wo sollte sie nun hin? Wo würde sie Noah finden? „Noah?", flüsterte Blue in die schwarze Nacht. „Noah, ich bin hier." Noah tauchte nicht auf. Aber dafür geschah etwas anderes. Goldene Lichtpunkte schweben um sie, wie magische Glühwürmchen. Winzige Sterne, die um sie herumwirbelten, sie willkommen hießen als hätten sie auf Blue gewartet. Vielleicht hatten sie das. Dann lösten sich die ersten Lichter aus der Gruppe und begannen vor ihr her zu schweben. Irrlichter, die ihr den Weg leiteten. Den Weg zu Noah. Blue folgte ihnen weiter in den Wald hinein. Sie erleuchteten die Bäume und Büsche, warfen unwirkliche Schatten auf ihren Weg, aber Blues Angst war verflogen. Cabeswater beschützte sie. Es war auf ihrer Seite.

Blue wusste nicht, wie lang sie schon gelaufen war. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht eine Stunde, Zeit war hier nicht linear. Aber nun lichtete sich der Wald um sie herum und sie wusste, sie war da: Eine vom Mond erleuchtete Lichtung, in deren Mitte ein silberner See ruhte. Der Mond spiegelte sich darin, alles war silbern und golden, Mond, See, Glühwürmchen alles. Es wirkte nicht real. Vielleicht war es das nicht. Real - nicht real, es machte keinen Unterschied mehr. Am Ufer des Sees kauerte eine Gestallt. Silbrig, genau wie seine Umgebung. Verwischt, wie noch feuchte Wasserfarben, aber Blue erkannte ihn. Noah saß mit angezogenen Knien im Gras und blickte auf das spiegelnde Wasser. Er war hier, Blue war hier und für einen Moment blieb die Zeit stehen.

fading - the raven cycleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt