19

813 43 0
                                    

Lucifers Sicht:

"Super, es sind wirklich meine alten." Zufrieden betrachtete sich Michael im Spiegel. Seine Flügel befanden sich an Ort und Stelle. Er umarmte mich kurz, bevor wieder anfing von sich zu schwärmen. "Unglaublich."

"Unglaublich" nuschelte ich und schüttete mir eine halbe Flasche puren Vodka in den Rachen. "Gabriel legte mir beide Hände von hinten auf die Schultern. "Du bist dran."

Ich wusste nicht wirklich, ob ich bereit dafür war, so lange hatte ich auf sie verzichtet. Dieser Tag war einfach viel zu viel gewesen. Im einen Moment war ich der Teufel, im anderen war ich Gott. Das war selbst für mein kluges Hirn ein wenig zu viel.

"Hör auf zu trinken und los gehts" Michael zog mir die Flasche aus der Hand und nahm selbst einen großen Schluck.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. "Du trinkst?"

Er zuckte mit den Schultern. "Manchmal" grinsend reichte er die Flasche an Gabriel. "Komm, zur Feier des Tages." Zögernd nahm der Erzengel die Flasche, nahm einen großen Schluck und verzog das Gesicht.

Lachend setzte ich mich auf einen Barhocker. "Dieses Zeug ist auf der Erde noch widerlicher."

"Kaum zu glauben" murmelte Gabriel und stellte die Flasche auf den Tisch. "Okay."

Ich holte tief Luft und nahm die Kette, welche auf dem Thresen lag, in meine Hand. Gedankenverloren musterte ich den Anhänger. Er war der Schlüssel. Ich riss mich zusammen und stellte mich vor den Spiegel. Verdammt, ich war so nervös. Ich zitterte, konnte es kaum unter Kontrolle bringen.

"Luce" Michael griff meine rechte Hand. Zugegebenermaßen war das irgendwie ungewohnt, aber ich ließ es dennoch zu. Ich legte mir mit meiner freien Hand die Kette erneut um den Hals, spürte die Energie in meinen Körper fließen, irgendwann würde ich diesen Anhänger zerstören und alles in mich aufnehmen müssen. Ich zuckte etwas zusammen, als Gabriel sich plötzlich meine linke Hand schnappte. "Das erfährt niemals irgendjemand."

Die beiden Erzengel lachten nur. Ich musste grinsen, zitternd schloss ich die Augen. Ich konzentrierte mich wieder auf diese Macht, versuchte zu verstehen, wie Jahwe meine Flügel geschaffen hatte, ich konnte es nicht beschreiben, es waren Energiewellen, ich sah es vor mir, aber erklären würde ich es niemals können. Ich konzentrierte mich auf die Flügel im Zusammenhang mit meinem heutigen Ich. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Rücken aus, ich konnte es nicht ganz zuordnen, es fühlte sich ein wenig unangenehm an, doch nach wenigen Minuten war es vorbei.

"Luce, öffne die Augen." Michaels Stimme drang in meine Ohren. Ich bemerkte erst jetzt, wie ich meine Augen zusammengepresst hatte und die Hände meiner Brüder vermutlich zerdrückte. Ich löste meinen Griff und stand etwas unbeholfen vor dem großen Spiegel, die Augen immer noch verschlossen. Ein Gefühl der Vollkommenheit machte sich in meinem Körper breit, es fühlte sich an, als hätte man einen Stecker endlich richtig in die Steckdose gesteckt. Komische Erklärung. Ich riss die Augen auf, mir stockte der Atem. Ich taumelte ein paar Schritte zurück und wären jetzt nicht diese Teile auf meinem Rücken, wäre ich glatt hingefallen. Doch sie gaben mir das nötige Gleichgewicht. Erschrocken drehte ich mich um und riss versehentlich die kompletten Glasflaschen aus dem Regal. Bei meiner Rückwärtsdrehung erwischte ich die Gläser. Ganz ruhig. Michael und Gabriel standen geduckt ein paar Meter von mir entfernt. "Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich jetzt noch breiter bin" entschuldigte ich mich grinsend. Dann haftete mein Blick am Spiegel. Meine blauen Augen weiteten sich noch mehr, ich konnte nicht glauben, was ich dort sah. Auf meinem Rücken, genau auf den Schulterblättern, befanden sich meine Flügel. Schneeweiße Schwingen, mit kräftigen, langen Federn und starken Bögen. Vorsichtig strich ich über einzelne Federn. Mein Atem stockte, ich war so überwältigt, mir fehlte tatsächlich die Sprache. Ich betrachtete mich von jeder Seite, die Flügel hatten eine gigantische Spannweite, waren größer als die aller anderen Engel. Der Heiligenschein hüllte mich in ein angenehmes Licht. Ob ich...? Ich musste es probieren. Ich konzentrierte mich auf die dunkle Seite meiner Seele, dachte an alles schlechte und... tatsächlich, mein Heiligenschein verwandelte sich in meine dunkle Aura.

"Luce..." nuschelte Gabriel.

"Oh ups..." schnell zog ich sie zurück. "Wollte nur testen." Was für ein Wesen war ich nun eigentlich? Teufel? Engel? Gott?

"Wunderschön" flüsterte Michael und musterte meine Flügel.

Wieder betrachtete ich mich im Spiegel. Ich bewegte die großen Schwingen leicht, hob kurz vom Boden ab und stellte mich anschließend wieder auf den sicheren Untergrund. "Wow" murmelte ich kaum hörbar. Einzelne Tränen der Freude sammelten sich in meinen Augen. Der Schmerz war weg, dieses Gefühl der Leere existierte nicht mehr. "Lasst uns fliegen" sagte ich und fühlte mich wie ein kleines Kind, an seinem Geburtstag. Schnell sprintete ich nach draußen, gefolgt von Michael und Gabriel.

"Ich habe eine Idee" sagte Michael. "Wie in alten Zeiten." Er lief hektisch los und etwas verwirrt folgten wir ihm. An einem großen Abgrund blieb er stehen.

Entsetzt blickte ich nach unten. Hier hatte ich, ganz am Anfang, immer ein Wettfliegen mit meinen Brüdern gemacht. Doch jetzt war ich vermutlich nicht bereit dazu, ich war so lange nicht mehr geflogen. "Ich kann nicht" stellte ich trocken fest.

"Oh doch" grinste Michael herausfordernd. "Ihr wisst, wer zu erst unten ist..." und schon stürzte sich der Erzengel in den Abgrund. Gabriel folgte ihm ohne Widerrede. Ich atmete tief ein und stürzte mich nach unten.

Meine Flügel lagen eng an meinem Körper, ich machte mich so schmal wie möglich und wenig Widerstand zu haben. Der Wind schlug mir ins Gesicht, die Luft war frisch und umschloss mich wie eine Blase. Ich fühlte mich frei, so frei wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Ich dachte an absolut gar nichts, außer an dieses Gefühl der Freiheit. Ich hatte es so vermisst.
Langsam kam der Boden immer und immer näher, gekonnt breitete ich meine Flügel aus und wurde sofort abgebremst. Zu zeitig, denn Michael und Gabriel waren schon längst unten und lachten.
Sicher landete ich neben ihnen. "Verdammt, ich muss wieder üben."

"Du hast damals schon selten gewonnen" stellte Michael provozierend fest.

Ich winkte ab. "Am besten wir gehen, bevor die Menschen uns sehen." Gerade als ich meine Augen schloss, griff Gabriel mir auf die Schulter.

"Wir fliegen."

Ich wollte gerade protestieren, doch dafür war ich zu stolz. Also tat ich ihnen einfach gleich, drückte mich vom Boden ab und flog nach oben. Anfangs waren meine Flügelschläge ziemlich unkoordiniert, doch mit der Zeit hatte ich den Dreh langsam raus. Wir flogen immer und immer höher, bis durch die, für Menschen unsichtbare, Barriere des Himmels. Oben angekommen stützte ich mich außer Atem auf meine Knie. Meine Flügel zitterten. Vermutlich würde ich morgen Muskelkater haben. "Okay, ich brauch einen Drink" sagte ich schwer atmend und steuerte die himmlische Bar an.

"Wisst ihr, die is... ist echt heiß" Gabriel lallte und grinste uns an.

Ich klopfte ihn auf den Rücken. "Mit mir als neuer Gott, ist es keine Sünde mehr sich zu vergnügen." Grinsend schaute ich in sein verdutztes Gesicht.

"Hast du das jetzt alleine festgelegt?" Michael schaute mich, ebenfalls etwas angetrunken, lachend an.

Ich nickte grinsend. "Sieht wohl so aus." Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Glas und lief dann wieder zu dem großen Spiegel. Mir gefiel durchaus, was ich da sah.

"Wisst ihr, ich habe noch nie jemanden geküsst" hallte es aus Gabriels Mund.

"Na da bist du sicher nicht der einzige" sagte ich und schaute zu Michael.

Der Erzengel räusperte sich.

"Niemals" sagte ich grinsend. "Ich war also nicht der einzige Rebell."

"Verräter" lallte Gabriel ironisch und funkelte Michael an. "Was ist eigentlich mit Anastasia?"

Ich riss die Augen auf. "Ich muss euch leider verlassen, morgen bin ich zurück." Man hörte nur noch meine Flügelschläge und dann war ich schon weg.

Pakt mit dem Teufel - LuciferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt