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1988

Der Tag, an dem meine Reise nach Frankreich begann, war trübe und kühl. Meine beste Freundin Maggie schlief fast die ganze Zeit neben mir im Zug, denn sie hatte die Nacht zuvor erbrochen und hätte fast nicht mitkommen dürfen. Nur, weil ihre Mutter darauf beharrt hatte, dass sie wirklich nur reisekrank wäre, hatte sie am Schüleraustausch teilnehmen dürfen. Ich war gewöhnlich ebenfalls reisekrank, doch war ich noch zu betäubt von der Trauer über den frühen, plötzlichen Tod meiner Mutter, der erst drei Monate her war. Meinem Vater hatte ich es zu verdanken, dass er sich trotzdem auf diesen Tausch eingelassen hatte und Lucas aus La Rochelle bei uns hatte wohnen lassen, weil er dachte, es würde uns alle etwas ablenken. Doch Lucas, der Klassenschwarm, wie mein Bruder ihn nannte, weil er wirklich toll aussah, hatte sich mir gegenüber immer distanziert verhalten und ich hatte in den zwei Wochen kaum eine Beziehung zu ihm aufbauen können. Der Franzose war nur aufgelebt, wenn wir mit den anderen Austauschschülern zusammen gewesen waren. Schnell hatte ich heraus gefunden, dass Lucas eine Freundin hatte, die ebenfalls dabei war und ich hatte angenommen, dass sie vielleicht eifersüchtig war, doch ich hatte es bis zu seinem Abreisetag nicht raus bekommen, was genau ihn auf Distanz gehalten hatte. Oder ob er mich einfach nicht mochte. Ich war nie sehr beliebt gewesen, geschweige denn hübsch genug, um "dazu zu gehören", war wie Maggie Außenseiter. Maggie allerdings hatte eine wirklich nette Französin als Tauschpartnerin, die beiden freuten sich richtig auf das Wiedersehen, im Gegensatz zu mir. Ich schaute auf das Foto seiner Familie, das Lucas geschickt hatte- vor dem Austausch hatten wir Briefkontakt aufnehmen sollen und auch in der Zwischenzeit. Das Foto zeigte lauter feine, gut aussehende Menschen, Lucas älterer Bruder Timothée sah aus, wie ein Model und die Mutter der Jungen war eine wahrhafte, elegante Schönheit. Der Vater guckte etwas mürrisch in die Kamera. Er war mir am sympathischsten!

Wir überquerten die Grenze zu Frankreich und einige meiner Mitschülerinnen begannen, aufgeregt zu schnattern. Die Jungen brüsteten sich gegenseitig mit ihren Eroberungen aus der Französischgruppe, wobei ich mitbekommen hatte, dass sich Markus an der Freundin von Lucas die Zähne ausgebissen hatte. Dennoch tat er so, als würde sie nur auf ihn warten. Ich seufzte und drehte meinen Walkman lauter. Madonna sang „Live to tell" und machte mich traurig. Ich spulte also zum nächsten Song, Erasure, schon besser! Schließlich schlief ich auch ein wenig ein, bis mich Maggie aufgeregt weckte.

„Wir sind gleich in Paris, Sina!" keuchte sie.

Ich lächelte und nickte. Reckte mich und schaute aus dem Fenster, beobachtete die Skyline, die an uns vorbeizog.

„Der Eiffelturm!" krähte jemand und nun wurde ich doch etwas aufgeregter.

Meine Beine fühlten sich ganz steif an, als wir mit unseren Koffern aus dem Zug stiegen, um quer durch Paris zum anderen Bahnhof zu laufen. Wir besuchten unterwegs Notre Dame, mehr Zeit blieb uns nicht und Sightseeing mit Gepäck war sowieso zu anstrengend. Dennoch waren wir nach dem langen Sitzen aufgeregt und voller Tatendrang. Wieder im Zug, legte sich der Drang jedoch und ich beobachtete müde, wie die Vegetation sich veränderte, je weiter wir gen Meer fuhren. Endlich kam La Rochelle in Sicht und meine Aufregung nahm wieder zu. Ich schaute mir schnell nochmal meine Begrüßungsworte für die Familie Chalamet an, die ich mir notiert hatte, sprach sie leise nach und Maggie lachte.

„So förmlich? Bei mir wird's ein „Salut!" tun. Dianne meint, ihre Eltern wären eh kaum zuhause."

Ich nickte. „Hm. Du hast es gut. Warum habe ich nur freiwillig einem Jungen zugestimmt?"

„Ich finde es echt nobel von dir. Und seitdem wollen sie alle deine besten Freundinnen sein..." grinste Maggie.

„Ach ja?" lachte ich. „Warte, bis sie Timothée sehen!"

tenebras luxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt